Auf den nachfolgenden Seiten wollen wir Ihnen einige Schlüchterner Persönlichkeiten der verschiedenen Epochen vorstellen.
Die Texte der Seiten stammen teils aus dem Buch von Wilhelm Praesent "Schlüchterner Gestalten" und teils aus dem Schlüchterner Heimatkalender "Bergwinkel Bote".
Beide Textquellen können Sie in unserem Büro für Touristik, Kultur und Freizeit käuflich erwerben.
Hutten, Ulrich von, Humanist,
* 21.4. 1488 Burg Steckelberg bei Schlüchtern / Hessen, + 29.8.1523 Insel Ufenau im Züricher See. Nach sechsjähriger Schulzeit in Fulda entfloh der einem fränkischen Rittergeschlecht entstammende, zum geistlichen Stand bestimmte Hutten dem Kloster und studierte seit 1505 als mittelloser Vagant in Erfurt, Köln, Frankfurt/Oder, Leipzig, Rostock, Wittenberg (1510), Wien, Pavia und Bologna und nahm Kontakte zu bedeutenden Humanisten auf. Seine Erfahrungen und Erlebnisse publizierte er in Schriften und Gedichten (z.B. „Nemo“). 1513 diente er als kaiserlicher Landsknecht in Italien. Nach seiner Rückkehr nahm er Partei für Reuchlin gegen die Dominikaner und verfasste einen Teil der „Epistolae obscurorum virorum“.In vier Schriften klagte er Herzog Ulrich von Württemberg wegen der Ermordung seines Verwandten Hans von Hutten an und beteiligte sich später (1519) aktiv an der Vertreibung Ulrichs. 1515-17 studierte er wieder in Italien, wurde 1517 in Augsburg von Kaiser Maximilian zum poeta laureatus gekrönt, gab im gleichen Jahr L. Vallas antipäpstliche Schrift über die konstantinische Schenkung heraus, trat in die Dienste Albrechts von Mainz und schrieb zahlreiche Pamphlete gegen die weltlichen Ansprüche des Papsttums und kirchliche Missstände, darunter als schärfste Schrift „Vadiscus sive trias Romana“ (1519), und ermahnte 1518 die deutsche Nation zur Einheit gegen die Türken. Als seine Stellung beim Erzbischof wegen seiner Angriffe auf die Kirche unhaltbar wurde, fand Hutten Zuflucht bei Sickingen, von dem er wie von Luther eine Reichsreform durch Adel und Städte gegen Fürsten und Geistlichkeit erhoffte. Vergeblich beschwor er Kaiser Karl V., Luther, dessen religiöses Anliegen Hutten missverstand, nicht zu verurteilen. Als seine Hoffnung auf eine allgemeine Erhebung gegen das Papsttum scheiterte, er selbst im Januar 1521 namentlich im der Erstfassung der Bannbulle für Luther genannt wurde, begann er im Herbst 1521 Privatfehden in Raubrittermanier gegen Geistliche („Pfaffenkrieg“). Nach der Niederlage seines Beschützers Sickingen, den er publizistisch - seit 1519 in deutscher Sprache - unterstützte, floh er 1522 als Gebannter nach Basel, wurde von Erasmus abgewiesen und erhielt schließlich durch Vermittlung Zwinglis Asyl auf der Insel Ufenau im Züricher See. Dort starb er bald darauf an den Folgen langjähriger Syphilis. Der vielfach in der Dichtung behandelte, wohl einflussreichste Publizist wurde besonders im 19. Jahrhundert einseitig als Vorkämpfer nationaler Einheit betrachtet.
Kurzbiografie Ulrich von Hutten - Aus: Taddey, Gerhard, Lexikon der Deutschen Geschichte, Stuttgart 1977, S. 564
(14. Jahrhundert) Eine der hervorstechendsten Gestalten des heimischen Rittertums war der Erbauer der Schlüchterner Huttenkapelle, Frowin von Hutten. Er wurde als Sohn Hermanns von Hutten, wahrscheinlich auf Burg Stolzenberg bei Bad Soden, geboren. 1327 erhielt er zusammen mit seinem Vater von Fulda ein Burglehen zu Stolzenberg und das Amt Herolz. Vater und Sohn verpflichteten sich dabei, auf dem Stolzenberg zu wohnen. Danach wurde er fuldischer Burgmann auf Schloß Werberg bei Brückenau, Amtmann auf Schloß Stolzenberg und später auch zu Neuhof. 1348 verlieh ihm Ulrich III. von Hanau sein Amt in Herolz.
1346 waltete er als Amtmann desselben Herrn auf Schloß Schwarzenfels. Die Urkunden zeigen ihn meist in friedlichen Geschäften als Zeugen, Bürgen und Schlichter. 1358 aber nahm er auf der Seite des Steinauers an einer Fehde gegen Lutz von Thüngen, Heinrich Marschall von Wallbach und Berthold von Bibra teil, die um den Besitz der Burg und des Gerichtes Altengronau entbrannt war. Nach der Vergleichung des Streites verkaufte er Ulrich III. seinen Altengronauer Anteil. Sonst war er, mehr Käufer als Verkäufer, am Ende seines Lebens ein wohlhabender Mann.
Er hatte Güter, Einnahmen und Nutzungen in Vollmerz, Ramholz, Sannerz, Herolz, Elm, Schwarzenfels, Weichersbach, Mottgers, Grieshof, Altengronau, Oberkalbach, Gundhelm, Marjoß, Emersbach (bei Altengronau), Rohrbach (bei Marjoß), Gerrode (bei Jossa), Lindenberg (im Osten des Kreises), Hof Eschenberg (bei Schwarzenfels), Dittenbrunn, Rodelsau (bei Jossa), Heswinden (bei Vollmerz), Veitsteinbach, Zeitlofs, Burg-, Mittel-, Obersinn, Aura, Rupboden, Haselbrunn (bei Gemünden), Weißenbach (bei Brückenau), Roßbach, Ober-, Niederdetter, Orb, Soden, Salmünster, Steinau, Klesberg, Schlüchtern, Hof Reith, Neuhof und Leibolds (beim Sparhof). Bei der Totteilung (restlose Teilung vorher gemeinsamen Besitzes) 1364 mit seinen Neffen Frowin und Konrad von Hutten fielen ihm besonders die im Quellgebiet der Kinzig und die im Sinngrund liegenden Güter zu, deren Mehrwert er mit einem Aufgeld von 250 Pfund Heller und 365 Gulden bezahlte.
1351/54 ließ er zusammen mit seiner Frau Tamburga (aus nicht bekanntem Geschlecht) eine Begräbniskapelle für seine Familie am Westturm des Klosters Schlüchtern errichten, beschenkte sie großzügig und ließ in stolzer Kürze die Inschrift anbringen: Im Jahre des Herrn 1351. bewidmete Ritter von Hutten, ihr Erbauer, diese Kapelle. Seine Frau wurde als erste darin begraben. Frowins zweite Frau Luckart war die Witwe eines von Markart und eine geborene von Steckelberg; sie wird 1358 zum erstenmal genannt, und im März 1365 verhandeln ihre Kinder aus erster Ehe mit Frowin und seinem Sohn Ulrich über ihren Nachlaß.
Frowins älterer Bruder Friedrich, der in ähnlicher Weise seinen Besitz zu mehren verstand, war noch erfolgreicher als er, er wurde von Kaiser Ludwig dem Bayern zum Landvogt der Wetterau ernannt. Er starb 1348.
Frowin ist der Stammvater derer von Hutten zum Steckelberg. Er ließ zu Vollmerz eine neue Burg bauen und trug sie 1375 Hanau zu Lehen auf und starb darin in hohem Alter am 7. März 1377. Sein Grabstein, der mit dem seiner Frau zusammen die Verschandelung des Klosters überlebte, ist eine schlichte Rechteckplatte mit Schild, Helm und Helmzierde. Im geneigten Schild die zwei Schrägrechtsbalken derer von Hutten, darauf das Helmkleinod des Stolzenherger Stammes: auf einem nach vorn gerichteten Kübelhelm ein wachsender bärtiger, langhaariger, nach rechts gekehrter Mann, den die mit Federn besteckte ungarische Mütze ziert. Das Kleid des Mannes geht in die Helmdecke über, in deren Wülsten nur einige Falten zu erkennen sind. Die Umschrift lautet in gotischen Kleinbuchstaben: anno domini m. ccc. lxxvii. nonas martii obiit frowinus mildes de hutten †.
1373 erlebte der alte Frowin noch das schwere Huttensche Familienunglück, dass einer der Sippe, Frowins gleichnamiger Neffe, von Ulrich IV. von Hanau im Streit in Steinau erschlagen wurde. Dem Totschläger wurde nach gewaltsamer Gefangennahme 1376 als Sühne auferlegt, in der Huttenkapelle einen Altar mit ewiger Messe, ewigem Licht und sonstigem Zubehör zu stiften.
(15. Jahrhundert) Die Herren von Schlüchtern waren Ministerialen des Klosters Schlüchtern und seiner Vögte, dem sie weltliche Dienste leisteten und es in gefährlichen Zeiten vor Schaden bewahrten. Ihr Wappen deutet diese Verbundenheit an: Ihre Schildfigur ist das Klosterkirchenfenster, ein zweigeteiltes romanisches oder später gotisches Fenster; auf Siegeln erscheint ein Doppelspitzbogen, während der Flug der Helmzierde mit je einem Spitzbogen belegt ist. Dieses Geschlecht des niederen Adels, Edelknechte und Ritter bewohnte in Schlüchtern 1144 bis 1525 nacheinander zwei feste Häuser, ein Fachwerkhaus in der Wassergasse, das ehemalige "Eckebäckers" Wohnhaus, und das Steinhaus in der Schloßgasse, das sogenannte "Schlößchen", das an die Herren von Lauter überging.
Das Geschlecht brachte zwei Schlüchterner Äbte und einen hanauischen Amtmann in Steinau hervor; weiter werden seine Glieder gefunden unter Schultheißen, Gerichtsschreibern, Pfarrern und Mönchen. Bis zu ihrem Erlöschen stellte die Familie Burgmannen in Steinau, Salmünster und Stolzenberg. Ihre Lehensgüter lagen zerstreut in Schlüchtern, Hundsrück, Steinau, Elm, Hintersteinau, Drasenberg, Gundhelm, Marjoß, Bellings, Seidenroth, Crainfeld, Radmühl und Burkhards.
Was in der Heimatstadt heute noch sichtbar an sie erinnert, sind neben den genannten Häusern zwei Grabsteine, von denen der ältere, unbeschriftete den Wappenschild des Geschlechtes, der jüngere aus dem Ende des 15. Jahrhunderts Bildnis und Namen des Hans von Schlüchtern und seiner Frau trägt.
Wörtlich heißt die Inschrift: Ano.dm. m.cccc,l xxx.der. erber. und.veste. hans. vo.sluchter.de.got.gnade. und.amely. sy.eliche.husfrawe.ey.tzobelin.de.got.gn. Im heutigen Deutsch würde das lauten: Im Jahre des Herrn 1480 der ehrbare und feste Hans von Schlüchtern, dem Gott gnade, und Amely, seine eheliche Hausfrau, eine Zobelin (von Guttenberg), der Gott gnade.
Das Ehepaar ist grob handwerklich in Sandstein gehauen. Mann und Frau halten Rosenkränze in den Händen. Der Ritter umfaßt dazu mit der Linken den Schwertgriff. Er steht in voller Rüstung. Die Frau tritt mit spitzen Schuhen ein Hündchen unter sich. Das Mannesgesicht unter der Schallern, dem gotischen Helm, und das Frauengesicht zwischen Haube, Wangen- und Kinnbinde sind kindlich formelhaft angedeutet, von Porträtähnlichkeit kann also keine Rede sein. Über ihren Häuptern die väterlichen und mütterlichen Wappen: Schlüchtern, Mühlheim – Zobel von Guttenberg, Thüngen.
1458 belehnte Abt Johann von Schlüchtern Hans von Schlüchtern genannt Katzenbiß mit einem Hofe im Hinhalberdorf (Ortsteil von Schlüchtern) "do das steynen Huß uff steet". Das ist die erste schriftliche Nachricht, die den Ritter nennt. Es bestehen fünf weitere, die ihn als Siegler, Zeugen, Tauschpartner oder Verkäufer anführen, also nichts Besonderes, nur das allgemein übliche solcher Urkunden aussagen. Mit einer Ausnahme: 1475 findet sich Hans von Schlüchtern unter den Fußknechten, die der Rat der Stadt Frankfurt gegen Karl den Kühnen, Herzog von Burgund, der Neuß belagerte, im Reichsheere ausschickte.
(1501 - 1567) Der berühmteste Schlüchterner, Abt Petrus Lotichius, wurde im November 1501 in Niederzell als Sohn des Klosterbauern Hen Lotz geboren. Als fahrender Schüler kam er bis Leipzig und besuchte dort die "gemeine Schul" bis 1516. 1517 trat er ins Kloster Schlüchtern ein, ein demütiger Mönch in einer dem Mönchswesen schon abholden Zeit - im Juli Huttens Dichterkrönung, im Oktober Luthers Thesenanschlag.
Die weiteren Stationen seines Lebens: 1523 Priesterweihe; 1525 Flucht vor aufständischen Bauern ins Hanauer Unterland mit Abt, Prior und dem übrigen Konvent; zum Stadtpfarrer in Schlüchtern bestellt; 1534 zum Abt gewählt. Als solcher bemühte er sich besonders um Klosternachwuchs und im Zusammenhang damit um die Gründung einer Schule. Humanistische und Kirchenreformfragen erfaßten ihn, von Fulda und Hanau her, tiefgründig. Durch den Gastlehrer Beuther wurde seine Bekanntschaft mit Melanchthon fester geknüpft – fürs ganze Leben. 1543 wagte er die zwei für das obere Kinzigtal zukunftentscheidenden Schritte: Er reichte, zuerst seinem Konvent am 13. Mai, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt und errichtete, von Melanchthon beraten, das Gymnasium Schlüchtern in den Räumen des Klosters, das dank der Melanchthonschen Weisungen schon von 1549 an eine erste Blütezeit erlebte und als eine der besten gelehrten Schulen in Mitteldeutschland galt.
Seinem Bischof hatte er ungerügt die gottesdienstlichen Veränderungen mitgeteilt, in einer gedruckten Reformationsschrift sein Tun begründet im Bewußtsein, keine "Sturm- und Narrenwerke", sondern verdienstliche Verbesserungen unternommen zu haben. Als er aber Notordinationen vollzog, sprach der Bischof die Exkommunikation über ihn aus. Die blieb ohne rechte Wirkung für sein Leben: Edelleute baten ihn weiterhin um taugliche Priester, sandten ihm Schüler, Melanchthon besuchte ihn, der Fürstabt von Fulda lud ihn zu Gast, der sächsische Kurfürst kehrte bei ihm ein, die Universität Marburg nahm ihn mit seinen Schülern ehrenvoll auf; er ließ eine Glocke mit dem Melanchthon-Wappen gießen und sich eine neue Abtswohnung herrichten. Im November 1548 wurde der Bann von ihm genommen. 1563 wählte er zu seiner Entlastung seinen Neffen Christian zum Koadjutor und trat 1565 in den Ruhestand. Zwei Jahre danach starb er am 23. Juni in Hanau und wurde am 25. Juni in der Klosterkirche Schlüchtern beigesetzt.
Abt Petrus Lotichius
Papiersiegel und Unterschrift
Sein von seinem Nachfolger gesetzter Grabstein, von Würzburger Händen verstümmelt, nach langer Zerstreuung der Bruchstücke wieder zusammengefügt, steht heute in der Katharinenkapelle. Er zeigt den Abt stehend im Gelehrtengewand, die Hände das Neue Testament umfassend, die Amtsabzeichen der geistlichen Würde nach unten zur Seite gerückt. Die Vorderseite des Sockels trägt in lateinischer Sprache die Inschrift: Dieser Stein zeigt das Bild des berühmten Lotichius, der zuerst die reine Lehre in dieser Kirche einführte. Fromm hat er beschlossen sein am Ziele angelangtes Leben.
Alle Lobreden auf ihn zu Lebzeiten und nach seinem Tode rühmen ihn als Mann der Kirche und der Schule. Melanchthon hinterließ ihm bei seinem letzten Besuche 1557 ein langes Lateingedicht, in dessen letzter Strophe er klassisch zusammenfaßt:
Einzig Lotichius ehrt Altar und Katheder, pflegt den Gottesdienst und die gelehrten Studien, seit die falschen Götzen daraus entfernt sind und die Finsternis der Sophisten auszog. Wollest, Christe, diesen Lotichius schützen, Logos du und Sohn des ewigen Vaters.
Nicht der junge Hutten, Petrus Lotichius, der väterliche, ist die kennzeichnende Hauptgestalt des Bergwinkels; schlicht und redlich, ein treuer Haushalter, ein Volks- und Schulfreund, dem "nichts lieber war, als in seinen Wänden bei seinen nächsten Blutsverwandten daheim zu sitzen", im Grund ein konservativer Bauer, alles andere als ein Rebell, Ketzer oder ungehorsamer Neuerer, der nicht umstürzen, vielmehr erhalten und behutsam bessern wollte. Er hat darum eine unvergleichbare Reformation zuwege gebracht: eine lautere Wiedergestaltung ohne politische oder ökonomische Nebenabsichten. Deswegen erfüllte ihn nicht Stolz, sondern stille Genugtuung, als er an seinem Lebensabend zurückblickte auf sein Werk: eine Stätte der reinen Lehre, eine blühende Schule, dankbare, hoffnungserweckende Schüler, eine stattliche Bibliothek, ein wohlverwaltetes Klostervermögen, er selbst geachtet vom Landesherrn und gewürdigt der Freundschaft angesehener und gelehrter Männer. Dankbar gedenkt er des Segens über seinem Leben und schließt seinen "letzten Willen" mit der Bitte, "daß solche meine Arbeit nicht verwirkt, sondern durch meine Nachkommen gebessert und erhalten würde".
(1528 - 1560) Melanchthon und Camerarius nannten ihn den "größten Dichter" unter den zeitgenössischen Deutschlands, womit sie natürlich Lateindichter meinten. Das bedeutet viel aus ihrem Munde; im :18. Jahrhundert hätten sie die Bezeichnung Genie gebraucht.
Dieser genial begabte und früh vollendete Dichter Petrus Lotichius Secundus wurde als Sohn des Laßbauern Hans Lotz am 2. November 1528 im Klosterdorf Niederzell geboren. Sein Oheim und Pate Abt Lotichius nahm ihn als Schüler ins Kloster Schlüchtern auf (1535 bis 1537).
Er lernte weiter in Hanau 1540, dann in Gelnhausen und in Frankfurt bei Mycill 1543, wo sich bereits sein natürlicher Drang zur Poesie und seine Meisterschaft in der lateinischen Sprache zeigten. Mit 16 Jahren bezog er die Universität Marburg, dann 1545 Leipzig, danach Wittenberg. Dort wurde er der Lieblingsschüler Melanchthons, der in ihm die "Zierde der Universität" sah. Er mußte mit seinem Lehrer 1546 nach Magdeburg fliehen, kämpfte im Heer des Schmalkaldischen Bundes mit, erkrankte, kehrte 1548 in die Heimat zurück. Besuchte Frankreich als Reise- und Studienmeister einiger adeliger, fränkischer Studenten, studierte bis 1553 in Montpellier (Reisen in die Pyrenäen und bis Gibraltar), bis 1555 in Padua, bis 1556 in Bologna (Doktorhut), genoß hier irrfolge einer unglücklichen Verwechslung einen Gifttrank 1557 Professor für Philosophie, Medizin und Botanik an der Universität Heidelberg. Gestorben am 7· November 1560 an der Malaria und den Folgen des italienischen Giftes. Begraben in der Peterskirche ohne Grabstein, "weil er dessen nicht bedurfte", das soll heißen, weil sein Ruhm unerschütterlich bleiben wird. Er ist es nicht geblieben, aber fest steht, daß er der bedeutendste neulateinische Dichter Deutschlands war, seine Dichtung die Vorstufe der Leistungen der deutschen Empfindungslyrik des 18. Jahrhunderts.
Den Zeitgenossen verkörperte er das Ideal des humanistischen Dichters. Tief eingedrungen in die Welt der Alten, die kunstvollen antiken Versmaße mit Eleganz beherrschend, sprach er reiches Leben darin aus von glücklichem Übermut bis zur dunkelsten Schwermut. Gottesfurcht, Naturfreude, Heimatliebe und Freundschaft beseelten ihn; Lauterkeit und Männlichkeit waren die Grundzüge seines Charakters.
Eine Probe seiner Kunst möge hier übersetzt stehn, eine in der Heimat gedichtete:
Quelle, du Zierde des Hains,
umgrünt von üppigem Moose,
die du den Vätern schon oft
kühlende Labe gewährt,
wonnig umfängt mich bei dir
des Helikons heilige Stille,
und Begeist'rung erweckt
deine kastalische Flut.
Lieblichen Schlummer lockst du herbei
mit sanftem Gelispel,
und den Durstigen letzt nirgends
ein reinerer Trank.
Weder schmutziger Schlamm
noch trübt jemals dein Wasser, [Vieh
leuchtender noch als Kristall
glänzt es bis tief auf den Grund.
Vögel nippen vom rieselnden Naß,
und in lieblichem Chore
tönt ihr klagendes Lied
rings aus dem dichten Gezweig.
Ach, daß so jung ich die Heimat
verlassen muß. Drauß' in der Fremde
wird nach dem Hain und dem Quell
ewige Sehnsucht mich ziehn.
Doch ist es süß dereinst,
erduldeten Leids zu gedenken,
und nach der Wand'rung Müh'n
freut man sich doppelt der Ruh.
Leb denn wohl und vergiß nicht mein,
sanft murmelnde Quelle.
Scheidend wünsch ich dir noch:
"Nimmer versiege dein Lauf!"
(1710 - 1785) Die bemerkenswerteste Gestalt im Leben der Stadt im 18. Jahrhundert war Rektor Johann Heinrich Hadermann. Geboren am 25. Juni 1710 als Sohn des Weißgerbers Johann Adam Hadermann; schulausgebildet im heimischen Gymnasium. Im Jubiläumsjahr 1727 bezog er die Universität Marburg zu vierjährigem Studium, das sich in der Hauptsache auf Philosophie, Mathematik und Physik erstreckte. Seine Lehrer waren Kirchmeier und "der Schrittmacher der Aufklärung" Chr. Wolff. 1731 heimgerufen, verdiente er sich seinen Unterhalt ein Jahr lang als Privatlehrer. Sein Drang nach weiterer wissenschaftlicher Ausbildung bewog ihn zu einem siebenjährigen Studium der klassischen Sprachen bei dem berühmten Professor Peter Burmann d. Älteren an der damals blühenden niederländischen Universität Leyden. 1740 übertrug man ihm das Rektorat am Gymnasium der Vaterstadt.
Der weltläufige Mann, der am besten ausgebildete aller Lehrer, mußte in den engen Verhältnissen einer Kleinstadt im Laufe der Zeit, besonders wegen seiner freien religiösen Anschauungen, anecken. Die bezeichnendste Charakterisierung seiner neuzeitlich anmutenden Lehrerpersönlichkeit enthält darum eine - Beschwerdeschrift gegen ihn:
"Führet der Rektor Hadermann eine sehr verderbliche Schulzucht und das besonders bei denen Schülern der ersten Klasse, indem er dieselben als große Herren tractiret und ihnen allen Mutwillen ungestraft hingehen läßt, sodaß wenn auch die Prediger darüber klagen, dadurch nicht nur nichts ausgerichtet, sondern gedachter Rektor noch dazu in einen großen Affekt gebracht wird, weil derselbe nicht leiden kann, daß jemand etwas gegen seine Schüler sagt. Am allerschlimmsten aber ist, daß er die Schulstunden mit unschicklichen Reden und Erzählungen zubringt, da er seinen Schülern erzählt, was er für Reisen getan, welchen Weg er genommen, was ihm auf der Reise begegnet, welche Gesellschaften von beiderlei Geschlecht er frequentiert (besucht), wie prächtig das Land sei, was in compagnien (Gesellschaften) vorgesetzt werde (an Speisen), wie die Kuhställe gebaut sind, was die Kühe zu fressen bekommen, wie dieselben sauber gehalten werden und dergleichen mehr. Die hieraus entstehende Familiarität wird dadurch noch vermehrt, daß derselbe seinen Schülern erlaubt, in seiner Gegenwart Tabak zu rauchen und auf den Straßen mit langen Tabakpfeifen herumzugehen, auch daß er die Schüler Messieurs (meine Herren) nennet."
Als rechter Schulleiter trat er besonders für seine Kollegen ein:
"Ein Schulmann ist eine Person ohne Autorität. Er kann niemand Leid oder Schaden tun. Er will es auch nicht tun. Darum ist er ein kleines Lichtlein in den Augen vieler Leute, und ein Kirchenältester will selbst ein Vorsteher der Schule sein und das Recht haben, bei aller Gelegenheit die Praeceptores des Gymnasii zu tadeln. So weit sind die Studia elegantiora gekommen!"
Und auf den Vorwurf der äußeren Mißstände entgegnete er scharf: "Stände es bei uns, so sollte diesem Mißstand schon lange abgeholfen sein, unsere Wände im Closter und Schulen sollten ein ander Ansehen haben, und die Fenster, die vor fünfzig Jahren die nämlichen waren und ebenso aussahen wie jetzt, wären längstens einmal neu geworden."
Hadermann hat als erster die Grabsteine der Klosterkirche inventarisiert. Seine heimatgeschichtlichen Sammelaufzeichnungen, Teile seiner Chronik des Siebenjährigen Krieges und Reste der von ihm gegründeten Schulbibliothek werden im Bergwinkelmuseum, sein Schulalbum in Marburg aufbewahrt. 1763 verabschiedete er seine Primaner mit einer lateinischen Rede auf den Frieden, die mit einigen seiner und seines jüngsten Sohnes Lateingedichte 1789 in Hanau im Druck erschienen. Er ist der Stammvater einer weitverbreiteten, angesehenen Sippe von Lehrern, Pfarrern, Gelehrten und Schriftstellern geworden. Von seinen Söhnen war Josias Rektor in Büdingen, Konrad Georg Konrektor in Hanau, Christian Rektor in Düsseldorf, Leonhard Lehrer in Hanau.
Er starb am 8. Februar 1785 in Schlüchtern "de Gymnasio, republica, suisque optime meritus" (um das Gymnasium, den Staat und die Seinen wohlverdient). Wie stark er mit der Heimat verbunden war, zeigen die Verse, die 1771 anläßlich einer von ihm bewirkten Instandsetzung des Acisbrunnens aus seiner Feder flossen:
"Diesem Brunnen, den einst des Lotichius Lieder verherrlicht, kehrte nun Name und Zier, wie es gewesen, zurück. Mögen die Dichter nun kommen und so, wie Secundus es pflegte, reichlich genießen vom Naß, welches die Musen erquickt."
(1745 - 1817) Der bekannteste und beliebteste jüdische Einwohner unserer Stadt war lange Zeit das "Preißje von Schlüchtern". Er war der Sohn Löbs des Kleinen in der Obergasse, am 7. März 1745 geboren, hieß Mordechai Löb, nach der Einführung deutscher Familiennamen für Juden Preuß oder Preiß.
Ludwig Grimm zeichnete ihn 1815 zweimal und radierte danach Porträts von hervorragender Naturtreue. Eine von C. W. Woerrishoffer in der Biedermeierzeit gefertigte Lithographie des Bildnisses war in heimischen Familienstuben weit verbreitet. Zudem hat ihn der Maler Grimm zum Vergnügen seiner Geschwister in Briefen eingehend geschildert: "Das letztere ist jetzt 72 Jahre, läuft aber noch die Woche jahrein, jahraus zweimal nach Steinau, pocht bei Wilhelm Denhard an die Tür und sagt weiter nichts als: Nix ze bestelle nach Schlichtern? Ke Hasebälkje, nix vo Woor?Wenn auch niemand im Zimmer ist. Das Preißje ist ein wahres Bedürfnis für Steinau, weil es Zitronen und dergleichen Sachen dahin schleppt, alle Leute haben es gern, und ich habe es gezeichnet und sehr ähnlich. Es war ein kleines mageres Männchen, immer munter, witzig und vergnügt und ließ sich durch nichts abschrecken. Wenn er elfmal kam und abgewiesen ward, kam er das zwölfte Mal doch wieder. Er ist wenigstens neunzig Jahre alt geworden. In seinem echten Schacherjudengesicht, mit dem weißen spitzigen Bärtchen am Kinn, lag so viel Verstand, Witz, Schlauheit und doch auch Gutmütigkeit, und er hatte ein so verschlagenes Lächeln, daß es eine Freude war, dieses Original anzusehen. Die Leute betrachteten ihn als einen braven Juden, bei alt und jung war er bekannt, war bis zum Lächerlichen gefällig, und alle Leute benutzten ihn zu Bestellungen."
Seine Gänge erstreckten sich bis Wächtersbach, Büdingen, Gelnhausen, Friedberg, Hanau und Frankfurt; dort hatte er eine verheiratete Tochter. Politisch war er ein Anhänger der Französischen Revolution und regierungstreuer Bürger des Großherzogtums Frankfurt, der Religion nach ein frommer Jude, der zweimal in der Woche fastete, dazu am Tage vor Eintritt des Neumonds, am Freitag wie an den Vorabenden hoher Festtage in die Mikwe (Reinigungsbad) ging und auch sonst keinerlei Gebote versäumte. Er stand im Ruf großer Kenntnisse in Medizin, Mathematik und Jurisprudenz, von der Thora und dem Talmud nicht zu reden, und scherzte darum manchmal über seine Doppelnatur, indem er von sich sagte: "Ich hab' Thore (Thora = Gesetz), ich hab' Schore (Sachora = Handelsware)." Einen kleinen Nebenverdienst brachte ihm in der Woche vorm Passahfest das Ausglühen der kupfernen Speisegeräte und des Küchengeschirrs seiner Glaubensgenossen; auf diese Weise geschah das vorgeschriebene "Koschern" (Reinigen). Als einträglicheres Nebengewerbe betrieb er die Ehevermittlung und galt für einen beliebten und glücklichen "Schadchen", wie die Juden sagen, und seine Hausierzüge durchs Land boten genügend Gelegenheit dazu.
Preißje starb am 6. Mai 1817. Sein Sterben wurde bald von einer Legende umwoben, wozu der seinem Todestag vorausgegangene Versöhnungstag Anlaß gab. Er hatte sich, obwohl bettlägerig krank, am (jüdischen) Neujahrsfest morgens 3 Uhr in die Synagoge geschlichen. Die Herbstnebel und die Anstrengungen des achtstündigen ununterbrochenen Gottesdienstes verschlimmerten für die Folgezeit seinen Zustand. Am nächsten Jom Kipur stand es so bedenklich mit ihm, daß der Rabbi und der Arzt ihn zwangen, dem Fastengebot entgegen einen Löffel Suppe zu sich zu nehmen. Wehklagend über diesen einzigen bewußten Verstoß seines Lebens gegen das Gesetz soll er dahingeschieden sein.
(1760 - 1822) Sein Bildnis, das ihn als "Maire" von Schlüchtern zeigt, hängt an einem Ehrenplatz im Bergwinkel-Museum, sein Wohnhaus in der Brückenauer Straße Nr. 247, nach alter Zählung, steht umgebaut heute noch, er selbst aber ist dem allgemeinen Gedächtnis entschwunden, obwohl er der treusorgendeste Bürgermeister war, den unsere Stadt bisher hatte. Nach 150 Jahren - meist schon früher - erlischt die lebendige Überlieferung eines Landstädtchens.
In seiner Familie lebte noch, trotz ihres standesmäßigen Absinkens, das Bewußtsein ihrer Abstammung von der berühmtesten Sippe des Kinzigtales, den Ltichiern nämlich. Johannes Lotich kam als Enkel eines Häfners und Sohn des gleichnamigen Schuhmachers Johannes Lotich und seiner Ehefrau Anna Elisabeth, geb. Buchhold, am 4. April 1760 zur Welt. Seine Gymnasial- und Studienjahre fielen in die 70-er und 80-er Jahre; aus dem Kloster empfing er Stipendien für Bücher, für ein Klavier und zur Erlernung der Musik und später als Student zur Fortsetzung seiner Studien; danach scheint er Hauslehrer in Frankfurt gewesen zu sein ("in der Information zu Frankfurt"). 1791 heiratete er Maria Katharina Hadermann, die Tochter des Gymnasialrektors, und hatte mit ihr sieben Kinder. Seine Frau und eine Tochter starben vor ihm 1814 an "der epidemischen Krankheit". Er diente seiner Vaterstadt als Hospitalverwalter, Ratsverwandter, Stadtrat und Bürgermeister in den schlimmen napoleonischen Kriegszeiten. "Mir lagen die Pflichten des Billeteuramtes nun allein ob. Außerdem hatte ich die Mitaufsicht über das hiesige Fouragemagazin und das Fuhrwesen. Jede Anweisung ... ging durch meine Hand; ich mußte sie übersetzen, die Quantität der Fourage bestimmen und bei der Ausstellung zugegen sein. Das verursachte mir öfters mehr Unannehmlichkeiten als mein Billeteurdienst. Manchmal wurden 50 und mehr Transportwagen und Chaisen auf einmal verlangt. Ich mußte die Nummern der Häuser, die Wagen zu liefern an der Reihe waren, die Stunde der Abfahrt bestimmen. War kein Kommandant und kein Kriegskommissar auf dem Etappenplatz, welches oft der Fall war, so hatte ich die Beförderung des Kriegsdienstes ganz allein zu besorgen."
Selbst die fremden Offiziere bezeugten, dem Tag und Nacht sorgenden Lotich sei es zu danken, daß die französischen Soldaten in einem sozusagen von allem entblößten Städtchen an nichts Notwendigem Mangel hatten. Die Belastungen der Bürger und des Stadtoberhauptes stiegen mit den sich ausweitenden Feldzügen Napoleons derart, daß sich Lotich gezwungen sah, einen Notschrei an den Präfekten in Hanau zu richten: "Ein Städtchen von 260 Feuerstellen, darunter kaum noch 50 sind, so man dahin rechnen kann, wo der Herd die menschlichen Bedürfnisse noch mittelmäßig liefert, vom Jahre 1806 an bis auf den Augenblick zum Etappenplatz zu machen, ohne es im geringsten zu berücksichtigen, eine solche Einrichtung kann wahrlich länger nicht mehr bestehen. Wem kann die große Armut der hiesigen Einwohner bekannter sein als mir? Gewiß niemand anders, weil es meine Vaterstadt ist und ich seit 21 Jahren (denn solange hat hier schon der verderbliche Krieg sein Spiel ohne Vergeltung gehabt) die Armut zur Befriedigung der Soldaten habe einteilen, leiten und führen müssen . . . Soll dann ein Städtchen, dem man keine Trägheit, sondern WahreAufmerksamkeit beimessen kann, das Opfer allein für viele andere sein und allein sein bißchen Leben in Gram und Herzeleid verzollen? Ich weiß gewiß, wenn Ew. Hochwohlgeboren, unserm innigst geliebten und hochgeschätzten Herrn Präfekten, das widrige Geschick schon vorher bekannt gewesen wäre, so würden wir unsere Bürde nicht mehr so schwer tragen müssen. Dank, ewigen Dank wird der Unterdrückte seinem Erretter mit Frohsinn zuweisen und ihm eine Zähre am Grabe weihen. Diese Ernte wünscht aus reinem Herzen Ew. Hochwohlgeboren gehorsamster Diener der Maire Lotich zu Schlüchtern."
Als der Kriegsschrecken mit der Retirade im Oktober 1813 den Höhepunkt erreichte, saß Lotich ununterbrochen allein, da sein Adjunkt typhuskrank darniederlag, auf dem Rathaus, während Franzosen und Kosaken sein Haus plünderten, so daß ihm ein Schaden von 2576 Gulden entstand. Noch 1819 hatte er Besoldungsansprüche an die Stadt, deren Bestes stets sein Sinnen und Trachten gewesen war. Er starb 1822, als Schlüchtern Kreisstadt wurde; den Umbau des Rathauses erlebte er nicht mehr, für den Bestand des Dachtürmchens hatte er sich noch einsetzen können.
In Amsterdam gedachte 1829 noch ein alter Schlüchterner, Johann Joachim Weitzel, seiner: "Der Herr Bürgermeister Johannes Lotich war einer meiner besten Schulkameraden und Freunde. Dieser gute Mann hatte mir in meiner Abwesenheit eine Freundschaft bewiesen, die ich nimmer vergessen werde. Der Herr vergelte es ihm nach seiner großen Barmherzigkeit in der Ewigkeit!"
(1761 - 1840) Am 18. April 1761 kam er als Bäckerssohn in Schlüchtern zur Welt. Sein Vater baute auf dem Schießplatz nach der Schneidmühle zu ein Haus (Nr. 239), und dort verlebte der Knabe seine Kindheit. Die Armut seiner kleinstädtischen Umwelt prägte sich ihm tief ein. 1779, zwei Tage nach seiner Gesellenprüfung, bei der ihm die Zunftmeister das Zeugnis: "Treu, fleißig, stillfriedsam und ehrlich" ausstellten, begab er sich auf die Wanderschaft nach Holland. Er wurde seßhaft in Amsterdam, heiratete Maria de Vries und schaffte sich mit Fleiß und Umsicht empor zum wohlhabenden Mann.
61 Jahre seines Lebens hatte er in der Fremde verbracht, sein Heimatstädtchen nie wiedergesehen, und doch war dessen Wohl das Ziel seines Sinnens und Trachtens geblieben, wie aus seinem Testament hervorging. Er starb am 21 . März 1840 und wurde in der Westernkerk in Amsterdam begraben. Seine Frau folgte ihm im Jahre 1847.
Nach ihrem Tode trafen die holländischen Testamentsvollstrecker ein und überreichten dem Klosterrentmeister in Wertpapieren den Vermögensteil, den Weitzel in einem 1831 aufgestellten "Reglement", seiner Vaterstadt zugedacht hatte. In dem Vorbericht zu demselben heißt es: "Dieweil es der Vorsehung Gottes wohlgefällig gewesen ist, mir keine Leibeserben zu geben, . . . aber dessen ungeachtet von Herzen wünsche und begehre, daß diese mir unbekannten (Bürger Schlüchtern) von dem Teil der mir von Gott geschenkten Nachlassenschaft auch ihren Nutzen haben . . . so hat mir zur Erreichung dieses Zweckes der allwissende und gute Gott ins Herz gegeben und ich beschlossen, den Teil meiner Nachlassenschaft, welcher in Niederländischen Obligationen bestehet, von einer Gesellschaft von fünf dazu geschickten, ehrbaren Männern in Schlüchtern verwalten zu lassen. Ich bin versichert, daß diese braven Männer allen Fleiß und alle Sorgfalt anwenden werden, daß dadurch der Name Gottes verherrlicht und das Wohl unserer Nächsten befördert werde. Ich bitte Gott, den Vater unseres Herrn Jesu Christi, daß er diese meine Unternehmung mit seinem Segen krönen möge. Dann ist mein Herzenswunsch erfüllt. So sei es!"
Wie ein rechter Hausvater hatte Weitzel, warmherziger Menschenfreund und klaräugiger Praktikus in einem, alles bedacht, was zum materiellen, geistigen und sittlichen Gedeihen eines kleinen Landstädtchens nötig war. Viehzucht, Ackerbau - damals noch die Grundlagen des Erwerbslebens - sollten vor allen Dingen gefördert werden. Er setzte Prämien aus für Vieh und Feldfrucht, gab aber auch in Holland bewährte Ratschläge für Schaf-, Ziegen- und Bienenzucht, für Gartenpflege und Anbau von Dinkel und Zichorie. Häuser, Stuben und Ställe müsse man jährlich kalken, meinte er; das gebe gesunde Luft und verschönere das Straßenbild.
Für die Mädchen empfahl er die Einrichtung einer Nähschule, für junge Schreiner, Schlosser und Zimmerleute Zeichenunterricht, und für die allgemeine Verbesserung der Erziehung und des Unterrichts in Schule, Haus und Christenlehre machte er beachtenswerte, seiner Zeit vorauseilende Vorschläge. Die Hebung des Kirchengesanges war ihm ein Herzensanliegen, und eindringlich lenkte er den Blick auf die bessere Betreuung der Armen, Kranken und Alten und die Bekämpfung der Trunksucht. Witwen und Waisen und das Spital wurden mit Zuwendungen bedacht.
Weitzel vergaß kein Gebiet des Lebens, auf dem er seinen ehemaligen Mitbürgern Hilfe bringen oder eine Freude machen konnte. Wohlüberlegt nicht immer in Gestalt eines Geldpreises. Wie bunt und freundlich waren seine "Ehrengaben": Sträuße für Täufling und Braut, silberne Nadelbüchschen, Fingerhüte und Ketten für die Mädchen, Mäntel für die Kirchensänger, echt goldene "Ehrenpfennige" für den erfolgreichsten Landwirt, Schuhe für die Armen, Federn und Schreibpapier für die Lehrer, Bier für die Schützen, eine Summe, daß sich damit die Verwalter der Stiftung, die Lehrer und der Bürger, der dreimal den höchsten Preis erhalten, und die Bäckerzunft "einen fröhlichen Tag machen". Für die Schuljugend aber bestimmte er zum Osterexamen Brezeln!
Die Brezeln sind es, die heute noch an den einzigartigen Wohltäter der Stadt erinnern, wenn sie auf dem Acis beim "Weitzelfest" am ersten Sonntag im August an die Jugend verteilt werden. Hin und wieder mag auch einmal beim Anblick des Denkmals (1897) im Garten hinterm Schlößchen des edlen Mannes gedacht werden oder beim Besuch der "Weitzel- Bibliothek", die 1857 aus der von ihm bestimmten Lesegesellschaft hervorgegangen ist. Das Stiftungskapital aber, das am Anfang 22.260 Mark betragen hatte, 1881 durch Mißverstand einer Regierungsverfügung 10.000 Mark verlor, 1916 auf 70.122,56 Mark angewachsen war, wurde in unserem Jahrhundert Opfer zweimaliger Geldentwertung, und der Segen, den es in so vielfältiger Weise einst den Bürgern Schlüchterns gebracht hat, ist auf immer dahin.
(1800 - 1872) Die bedeutendste geistige Erscheinung Schlüchterns im 19. Jahrhundert war Dr. Philipp Leonhard Marius Lotich. Sein Vater, der Bürgermeister Johannes Lotich, und seine Mutter Maria Katharina, Tochter des Gymnasialrektors Hadermann, stammten aus altansässigen Familien. Er kam in der Brückenauer Straße in dem heute umgebauten Hause Nr. 16 am 27. März 1800 zur Welt.
Nachdem er das einheimische Gymnasium durchlaufen hatte, blieb das Ziel seiner weiteren Ausbildung ungewiß, da sein Vater, durch den Krieg verarmt, nicht mehr die Mittel besaß, ihm ein Studium zu ermöglichen.
Kurz entschlossen nahm der Sechzehnjährige sein Geschick in die eigenen Hände, indem er (in altdeutscher Tracht) in die welsche Schweiz reiste und dort nacheinander als Anstalts- und Hauslehrer seinen Unterhalt erwarb. In derselben Weise tätig finden wir ihn von 1820 an in Florenz.
Zwischen 1824 und 1832 aber wirkte er als Prinzenerzieher im Palast des Fürsten Bacciocchi in Bologna, im Kreise der Napoleoniden also. Es wurde seine reichste und glücklichste Zeit. Schon in Florenz hatte er in sein Tagebuch eingetragen: "Wenn ich in der Jugend so glücklich bin, lasse es mich einmal in meinem Alter nicht entgelten!" Lebenssprühend, gesellschaftlich gewandt, gewann er jedermann für sich, berühmte Fürstlichkeiten und Männer und Frauen, die im damaligen Italien auf irgendeinem Gebiet einen Namen hatten. Leicht eignete er sich vier Sprachen an, und sein Doktorexamen bestand er nebenher. Er war ein verantwortungsbewußter und erfolgreicher Erzieher, trotzdem blieb ihm reichlich Zeit, um Kunstdenkmäler, Galerien, Antiquariate, Theater und Konzerte zu besuchen. Auch besaß er die Mittel; um sich Gemälde, Bücher und Kupferstiche anzuschaffen.
Mit starkem Interesse verfolgte er das politische Geschehen um sich her, - den Beginn der Einheitsbestrebungen in Italien, berichtete darüber in der "Allgemeinen Zeitung" und im "Stuttgarter Morgenblatt" und fand ungeahnten Beifall. Cotta schrieb ihm: "Sie können kaum glauben, welche Sensation Ihre Briefe in allen Ständen und bei Menschen von den verschiedensten Ansichten gemacht haben. Sie werden mit Begierde gelesen, und ich kann Sie nicht dringend genug bitten, doch ja unserem Blatte diese Zierde nicht zu entziehen, sondern wie bisher mit Interesse als dessen Mitarbeiter fortzufahren" und gewährte ihm zwei- bis dreifach höhere Honorare als anderen Korrespondenten.
Nun begannen seine unruhigen Wanderungen. 1832, zwei Jahre nachdem sein Zögling in Rom an einem Sturz vom Pferd gestorben war, verließ Lotich Bologna, wandte sich mit unbekannten Zukunftsplänen nach München und wurde dort unter Künstlern, Gelehrten und Schriftstellern heimisch, ließ sich 1834 bis 1837 in Schlüchtern nieder, reiste jedoch 1839 nochmals nach Italien, und in seinem Tagebuch steht der für seinen damaligen Seelenzustand bezeichnende Satz: "O könnt ich nach Hause gehen, könnt' ich heimkehren in das Tal, wo die Burg Ulrichs von Hutten steht, heim zu meinen Verwandten, zu meinen Feldern und Wiesen, meinen Ochsen und Schafen, in mein Königreich ... " Die Sehnsucht nach der Heimat hatte ihn mit Urgewalt überfallen.
Er erwarb in Herolz ein Gut und führte fortan das Leben eines Bauern in altfränkischer Einsamkeit. Seine Mußestunden widmete er mehr und mehr der Volkskunde und der heimatlichen Geschichte. Er legte ein Mundartwörterbuch an, hielt Sitten und Bräuche fest, sammelte Märchen, Sagen und Anekdoten, immer in vertrautem Umgang mit dem Volke. Die Dorfbewohner lobten ihn schlicht als einen guten Nachbarn. Mit den Honoratioren der Kreisstadt verkehrte er kaum, wurde aber 1848, 1849 und 1850 zum Mitglied der kurhessischen Stände gewählt. Er blieb unverheiratet.
Schuldner ließen ihn im Stich; zwei Kisten mit Gemälden und Kupferstichen gingen ihm verloren. Seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten wuchsen von Jahr zu Jahr. Er starb am 16. Oktober 1872, abends 7 Uhr, an der "Gliederkrankheit", wie das Kirchenbuch meldet. Sein Grab auf dem alten Friedhof, mit einer einfachen Marmortafel geschmückt, ist in unseren Tagen zerstört worden.
Zu seinen Erben hatte er die Kinder seines verstorbenen Bruders bestimmt, die aber in der Annahme der Überschuldung die Erbschaft ausschlugen. Das Gericht wurde Testamentsvollstrecker, seine Bibliothek zu Spottpreisen verschleudert: 2534 italienische, 789 lateinische und griechische, 239 französische und englische, 84 russische und polnische Werke, 29 Kupferstichsammlungen, Manuskripte italienischer Humanisten. Darunter befanden sich 130 Aldinen, 79 Giuntinen und eine große Anzahl bodonischer Drucke, bibliophile Kostbarkeiten, wie sie in dieser Anzahl kaum eine andere Bibliothek in Deutschland aufzuweisen hatte.
(1874 - 1950) Ansprache, gehalten von Herrn W. Praesent, vor dem Kreislehrerverein Schlüchtern, im Jahre 1955:
Der Schulmann und Volksfreund ist vielen Jungen und Neubürgern in unsem Reihen wenigstens seiner äußeren Erscheinung nach noch bekannt geworden: ein müder, abgemagerter, hinfälliger Greis, das Großvaterkäppchen auf dem licht gewordenen Scheitel, gebeugt am Stock, in Hausschuhen in gehemmter Hast durch eine kleine Gasse des unbegreiflich sich verwandelnden Städtchens tappend oder zögernd einen raschen Blick werfend in einen von Lehrern gefüllten Versammlungsraum, beinahe scheu, hilflos, fremd und nicht mehr zugehörig - erschütternd für den wissenden Beobachter, der dem ahnungslosen manchmal in Gedanken, das Wort Attinghausens abwandelnd, zuzumurmeln den Drang verspürte: "Lern´ diesen ältesten der Hirten kennen, Knabe! Ich kenn´ ihn, ich hab´ ihn fechten sehen bei Favenz!"
Georg Flemmig
Wir Älteren unter den Ansässigen haben Georg Flemmig in Erinnerung, wie er gesund in seinem kräftigsten Mannesalter vor uns stand als geborener Mann des Volkes, als ein Schulmeister aus Leidenschaft, als erwählter Lehrer der Lehrer. Schwer, vierschrötig gebaut, über Mittelgröße, unter dem nachlässig gepflegten dichten Haarschopf ein paar klare, kluge und gütige Augen. Stets ordentlich gekleidet – Loden, später solides Tuch, Plüschhut, dunkler Mantel mit Samtkragen, Uhrkette und Schnauzbart – alles normal mittelständlerisch mit Ausnahme der in der Weichselholzspitze ewig qualmenden Zigarre. Und dieser nach Leibesgestalt, Kleidung und äusseren Lebensbedürfnissen behäbige, kleinstädtische Bürger oder Bauer war – der lebendigste Geist, die ursprünglichste Erscheinung, das Original in unserer Landschaft. Ich meine nicht "originell", ich meine Original im Vollsinne des Wortes: einmaliger geistiger Eigenwuchs, wie er etwa im genialen Mutterwitz des Hirtenbübleins in Grimms Märchen aufblitzt. Einen Mann wie ihn hat es vor ihm im Kinzigtal nicht gegeben und wird es nach ihm nicht wieder geben!
Helden und Künstler sind bisher in der Obergrafschaft Hanau noch nicht gewachsen. Die beste, eigentümliche, Wesen aussprechende und zusammenfassende Kraft ihres Bodens verkörpert sich im Typus des sozialen, genauer des väterlichen Menschen. Der Amtmann Grimm, dem der am Totenbett maßnehmende Schreiner eigentlich einen silbernen Sarg wünscht, der Bäcker Weitzel, der die Vaterstadt wie ein lebendiges Wesen liebt, der Bürgermeister Lotich, der im Dienst auf dem Rathaus aushält, während die Franzosen sein Heim plündern, von den Alten der Abt Petrus Lotichius, der wie ein milder Patriarch für seine Waldbauern sorgt, das sind die Leitgestalten unseres Bergwinkels. In dieser Reihe steht Georg Flemmig, aber - ich wiederhole es - in einmaliger Eigenart!
Der spätere Herausgeber des "Deutschen Volkstums" saß eines Tages neben mir in Flemmigs Stübchen, als Flemmig hinausgerufen wurde. Der Großstadtintellektuelle, bekannt mit allen geistigen Existenzen in Deutschlands zwei Weltstädten, flüsterte mir mit nachdenklichem Kopfwiegen zu: "Der erstaunlichste Mensch in Deutschland!" Das war ein Urteil nach einer einstündigen Bekanntschaft! Nach einer eintägigen redete ein Professor der Frankfurter Universität Flemmig zu seinem Entsetzen gar mit "Meister" an! Beide Beurteilungen, der Exaltation der damaligen Zeit entsprungen, kommen sachlich nicht in Betracht, zeigen aber, wie Flemmig als geistige Erscheinung wirkte.
Der Frankfurter Maler Fritz Boehle, selber ein Musterbild der Urwüchsigkeit, wies Fürsten, Bankiers, Schauspieler, Kunstschriftsteller von seiner Tür fort, den Schlüchterner Volksschullehrer aber, den er im Westendsanatorium in der Savignystraße kennengelernt hatte und in dem sein Instinkt das urtümlich Ebenbürtige witterte, nahm er ungebeten mit in sein selbsterbautes Haus auf dem Sachsenhäuser Berg und zeigte dem innerlich eigentlich Widerstrebenden in guter Ruhe alle seine Schätze.
Die Grundsubstanz des wahren Lehrerseins, das Vermögen Menschen zu gewinnen, war Georg Flemmig beigelegt als Gabe in Wesen und Wort. Wer in sein Stübchen kam, war ihm verfallen. Schlichte Herzen überwältigte er mit seiner Herzlichkeit, Geistige mit seiner angeborenen Gescheitheit, allen wurde er unvergeßlich durch seine Eigenart und seinen Humor. An bezeichnenden Proben der Stimme des Volkes über ihn sind mir folgende im Ohr geblieben:
"Was hat der Mann für gute Augen!"
"Wie der erzählen kann!"
"Dem könnte ich jeden Tag zuhören!"
"Wenn man bei dem war, das war so gut, wie in die Kirche gegangen!"
Und es kamen in sein Stübchen, das er gerne "Stübchen des Vertrauens" nennen hörte, Menschen aus dem ganzen Vaterland zusammen. Von den Einheimischen waren es seine Kollegen, Bürger, bewußte Heimattreue, aus der Nachbarschaft Kirchenälteste, Bürgermeister. Auch Landräte, Pfarrer, ein Seminardirektor besuchten ihn regelmäßig. Und zwischen den alten Bücherborden unter der niederen Decke wurde geplaudert, diskutiert, Beichte gehört, Rat erteilt, getröstet, kräftigst gescholten und getröstet, Verfahrenes ins rechte Gleis gebracht und viel Neues angeregt. Das engste Lehrerstübchen in einem der ärmsten Städtchen des Hessenlandes bekam aber den weitesten Horizont, als hier, durch Flemmig bestimmt, die Neuwerkbewegung den Treffpunkt ihrer Pfingsttagungen festlegen konnte. Schlüchtern hat zwei geistige Hochzeiten erlebt: Die erste war die Zeit der Reformation, in der das Kloster Ausstrahlungspunkt Melanchthonschen Geistes wurde; die zweite war die Neuwerkzeit. Unvergleichlich lebendiger, reichhaltiger und wirkungskräftiger war der Einfluß dieser Bewegung als die kleinen Anregungen, die heute von der "Europäischen Akademie" oder der Kulturgesellschaft ausgehen mögen.
Alle Glieder dieser bunten heterogenen Gesellschaft, die das Suchen nach dem "Neuen Menschen" zu einer Gemeinschaft machte, gingen, ein jeder auf eine andere Weise beschenkt, davon. Flemmigs Einblick in die Strömungen des damaligen Gegenwartsgeisteslebens wurde durch diesen Umgang, der ihm auch manchen Seufzer entlockte, ungeheuer geweitet – er selbst aber nicht verwandelt. Jedes und wenn noch so bestechend geistreiche Sektierertum war ihm ein Greuel. "Geht zu Johannes Müller, zu Lhotzky, zu Rudolf Steiner, wohin ihr wollt - ich geh in die Kirche!" Konventikeltum war ihm Pharisäismus und Untreue gegen die uralte Mutter. Trotzdem hörte er gerne den Ausdruck von den "Stillen im Lande", der dem ahnungslosen Herrn Zuckmeyer nicht gefallen will.
Sein Leben war trotz dieser Bewegtheit ein stilles, ja verborgenes. In seiner Vaterstadt waren überhaupt nur einige, die ihn würdigen konnten. Unter seinen nächsten Vorgesetzten, den Schulräten, aber gab es keinen, der wußte, wer dieser Mann war.
Wer war nun Georg Flemmig? In einem Prospekt der Stadt habe ich für ihn die Formel gefunden: ein weithin befruchtender religiössozialer Volksschriftsteller. Er hat nichts mit Schöner Literatur zu tun, er war ein christlicher Bote, und darf genannt werden in der ehrwürdigen Reihe der evangelischen Laienprediger Tersteegen, Bunyan, Claudius, Stilling. Sein Ziel war immer: Zeugnis ablegen, Botschaft bringen, sie dolmetschen, vergegenwärtigen, also belehren; "verkündigen" hätte er wahrscheinlich, als zu hoch bezeichnet, abgelehnt. Georg Flemmig war ein Lehrer, amtlich und außeramtlich.
In seinem Stübchen hing, solange ich denken kann, das große Bild des Amos Comenius. Wer ihn nach dem Grunde fragte, bekam die spaßhafte Antwort: "Weil er mir den Einser bei der ersten Lehrerprüfung verschafft hat! Ich habe damals über die "Didactica magna" referieren müssen." – Es hätte kein anderer Pädagogenkopf besser in den Raum gepaßt, als der des Vaters der Volksschule, dessen Lebensgrundhaltung Erwartung des Reiches Gottes war, die ihn zum Ernstnehmen des irdischen Auftrages doppelt verpflichtete und befähigte. Flemmig, der Junggeselle, besaß den ausgesprochensten Vater- und Familiensinn. Auch als Lehrer war er Vater. Die Einstellung des Lehrers als Kamerad dem Schüler gegenüber wertete er nur als kurzlebige Erfindung der Epoche pädagogischen Überschwangs, die Generationsstufen beseitigend und darum unnatürlich. Man kann den Lehrer darstellen mit der Rute, mit dem Psychologielehrbuch in der Hand; ihm schien als Sinnbild des Standes das richtige: der Lehrer mit dem geführten Kinde an der Hand. Lehrer und Schüler mit Boxhandschuhen einander gegenüber, verdammte er nicht, anerkannte diese Situation aber nicht als Standesbild und feststehendes Musterbild der pädagogischen Situation.
Er war im Grunde eine konservative Natur auf allen Gebieten, voll ehrender Scheu vor allem Erbe. Eine kleine Erinnerung: ich hatte mit Mühe eine Menge menschlicher Gebeinreste in der Andreas- und Huttenkapelle gesammelt und im Kloster beiseite gelegt, voller Vorfreude auf die Ergebnisse kommender Untersuchung. Am nächsten Tage fand ich sie nicht mehr. Flemmig hatte die Mönchs- und Grafenknöchlein alle wieder in Klostererde beigesetzt und verriet mir die Stelle nie.
Vor dem ersten Weltkrieg gab es in unserer Kreisstadt nur einen einzigen bewußten Demokraten, den Seminarlehrer Walther. Flemmig aber entwickelte sich sehr schnell nach den Erlebnissen 1914-18 vom treuen Monarchisten zum Demokraten Naumannscher und Hansjakobscher Art, und arbeiterfreundlich brauchte er überhaupt nicht zu werden. Die Devise des alten Bischofs: "Willegis, Willegis, denk´, woher du kommen bist!" stand nicht nur über seinem Bett geschrieben.
Die gründliche solide "Lernschule" des vorigen Jahrhunderts war die seiner Jugendzeit gewesen.
Von dem Tage an, da er in der Dorfschule Hutten zum erstenmal Einblick in die Praxis der "Arbeitsschule" gewonnen hatte, war er ihr begeisterter, überzeugender Fürsprecher und Interpret bei den Älteren. Die Folge davon war, daß Grupe und Klarmann, die Vorkämpfer der "Arbeitsschule" in Frankfurt, sich nirgends wohler fühlten als im Schlüchterner Kreislehrerverein. Allem Neuen war er aufgeschlossen. Ein Vortrag über das eidetische Schauen beschäftigte ihn durch Monate, die Festrede Georg Kochs zu Pestalozzis Todestag jahrelang.
Kollegialität war ihm mehr als wohltemperierte Berufsgenossenvertraulichkeit. Er suchte und übte sie wie Bruderschaft, sah in ihrem Hochbild eine heilige Verbundenheit, nicht weit von leiblicher Verwandtschaft.
Den Lehrerverein führte er durchaus nicht als weltfremder Idealist (wie ein Christ nie ein Idealist sein kann), sondern als klarer Betrachter und eifriger Verfechter der sachlichen und wirtschaftlichen Dinge des Schul- und Lehrerlebens. Seine Art des Ausgleichens und Brückenbauens war ein Segen für den Verein in der Zeit der zwanziger Jahre, wo die politischen und pädagogischen Bezirke schon von Explosionen widerhallten. Auf konfessionellem Gebiet war im Bannkreis seines Geistes eine unfreundliche Begegnung überhaupt nicht möglich. Als die Schlüchterner katholische Gemeinde den Gedanken erwog, eine Sonderschule einzurichten, wehrte der Pfarrer Lins mit den Worten ab: "Solange ein Rektor wie Flemmig an der Stadtschule waltet, werden wir immer unsere Kinder in eine christliche Gemeinschaftsschule schicken!" Als ein andermal der Judenvorsteher einen ähnlichen Plan offenbarte, brauchte Flemmig nur mit wenigen Worten ihm die Vorteile der vollgegliederten Schule darzulegen, und es blieb in vollem Frieden beim Alten.
Flemmig stand hinter den Zielen des Vereins. Als junger Lehrer weigerte er sich, neben dem Pfarrer die Abendmahlsgeräte zu tragen. Als der Pfarrer sie daraufhin selber aufhob und keinen Küster damit beauftragte, nahm sie ihm Flemmig mit den Worten wieder ab: "Wenn Sie das Tragen als Ehrendienst sehen und nicht als niederen Küsterdienst auffassen, wie ich sehe, dann bitte ich darum.""Pfarrer und Lehrer vereint" – wie er auf der Grabplatte des Dichters von "Stille Nacht" in Hallein gelesen hatte, wurde ihm ein Wahlspruch, dem er sein ganzes Leben hindurch nachtrachtete und der ihm schönste Wirklichkeit wurde in der "Arbeitsgemeinschaft evangelischer Pfarrer und Lehrer" auf dem Acis.
Das A und 0 in Flemmigs Leben war die Heimat. Einen Heimatmenschen wie ihn habe ich noch nie wieder gefunden. Er war eigentlich kein Heimatforscher, wie sein Schrifttum nichts mit Heimatkunde zu tun hat. Ihm kam es auf viel Höheres an: auf die Erweckung elementaren Heimatgefühles! Heimat haben, Beheimatetsein, das meinte er, nicht mehr oder minder gelehrt oder wissenschaftlich Bescheid wissen auf dem Wohnboden. Heimat ist ein Urgut. Jeder sucht Heimat, auch heute, wo man in Kontinenten, ja in Erdhälften denkt, Heimat im Raum, in Dingen, in Menschen, Ideen oder Tätigkeiten, und schließlich im höchsten Gut, in Gott. Wie er das 9. Gebot auslegte: Du sollst deinen Nächsten nicht heimatlos machen! so würde er auch heute dem neugeprägten Erziehungsziel des "mündigen Menschen" sein altes überordnen vom verwurzelten und gebundenen Menschen; denn Heimat, Brüderlichkeit, Friede, diese guten Gaben, waren für ihn beinahe synonym. Und wäre der liebe Tote noch leiblich unter uns, er würde uns in der Mitte des Jahrhunderts, das sich unheimlich aus dem "des Kindes" zu dem der Atombombe gewandelt hat, als summa summarum der Menschenführung die Worte zurufen: "Das Begehren nach diesen guten Gaben zu erregen, ist des Lehrers höchstes Amt, und sein Arbeitsfeld, auf dem er als kleiner Mithelfer wirken darf, bleibt vor allem das Herz. Das von Gott geheilte Herz allein heilt Herz, und nur wer das Herz bewegt, bewegt die Welt - zu ihrem Heile!"
(1889 - 1962)
(Ansprache bei der Trauerfeier für Dr. E. Clement im Kreiskrankenhaus durch Dr. Ulrich Ströder.)
Wir haben uns heute hier versammelt, um unseres Chefs Dr. Clement zu gedenken, der fast 43 Jahre hier gewirkt hat, und um Abschied von ihm zu nehmen. Mitten aus dem vollsten Schaffen heraus, ohne Zeichen einer Leistungsminderung, ohne Beschwerden, wie sie sich im Alter so häufig einstellen, wurde er aus dem Leben gerissen, nachdem er kurz zuvor noch eine abnorme Geburt glücklich zu Ende gebracht hatte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel überraschte ihn der Tod, als er vor der weiteren Arbeit froh noch einmal nach seinem Neubau schauen wollte.
Wenn wir das Leben unseres Dr. Clement verstehen wollen, müssen wir einen kurzen Blick auf seinen Werdegang tun. Als Sohn eines Juristen, der zunächst als Staatsanwalt, dann als Richter und später als Leiter der Strafanstalt in Butzbach tätig war, wuchs er in einem typischen Beamtenhaushalt auf, wo ihm Pflichterfüllung und Bescheidenheit anerzogen wurden. Als er später in Gießen und vorübergehend in München studierte, ging er mit Begeisterung, Konsequenz und Zielstrebigkeit ganz in seinem Studium und in seinen Interessen für die Naturwissenschaft und die Medizin auf. Schon in seinen klinischen Semestern arbeitete er als Assistent am anatomischen Institut und erwarb sich dabei gediegene Grundlagen. Später fand er in dem Physiologen Garten einen Lehrer, der ihn bei der Lösung von Problemen durch seinen unermüdlichen persönlichen Einsatz bei Tag und Nacht mitriß und in unserem Dr. Clement auch den fand, der sich begeistern ließ und in der gleichen Weise in seiner Arbeit aufging. Das Ergebnis dieser fruchtbaren, gemeinsamen Arbeit von Clement und Garten finden wir noch heute in unserem neuesten Hand- und Lehrbuch der Elektrokardiographie von Holzmann zitiert.
Aus dieser Zeit stammt auch das Interesse für Optik und Elektrizitätslehre, für Technik und Basteln. Immer wieder überraschte und beschämte er uns mit seinen Kenntnissen. Es folgten die Jahre der klinischen Ausbildung bei dem bekannten Chirurgen Poppert in Gießen, wo er sich mit der gleichen Intensität wie vorher in der Physiologie die Grundlagen seiner chirurgischen Ausbildung erarbeitete. Schon damals fiel seine kräftige, gesunde Konstitution auf, die es ihm erlaubte, stundenlang ohne Beschwerden am Operationstisch zu stehen. Ermüdungserscheinungen an langen Operationstagen waren ihm völlig unbekannt.
Während des 1. Weltkrieges war er als Truppenarzt auf Verbandsplätzen und im Feldlazarett tätig und kehrte später wieder zur Gießener Klinik zurück.
Am 1.11.1919 übernahm Dr. Clement als neuer Chef und Nachfolger des San. Rat Dr. Stern das Kreiskrankenhaus Schlüchtern. Mit dem ihm eigenen verschmitzten Lächeln und Schmunzeln erzählte er in Erinnerung an seine Ankunft am Bahnhof, wie Herr Lübbert, der ihn abholen sollte, den bescheiden gekleideten neuen Chef mit Rucksack nicht erkannt und im Krankenhaus gemeldet habe, der Chef sei nicht gekommen. Mit gewohnter Energie und Arbeitsfreude nahm er seine neue Tätigkeit auf und machte durch seine Erfolge auf dem Gebiete der mittleren und großen Chirurgie, der Unfallheilkunde und auf dem geburtshilflich-gynäkologischen Sektor unser Kreiskrankenhaus bald zu einem Zentrum unseres hiesigen Gebietes. Damals schon erwarb er sich noch eine besondere Fertigkeit in der Operation vergrößerter Schilddrüsen. Eine der ersten Patienten auf diesem Gebiet waren Sie, Frau Clement, mit einem schweren Basedow. In den letzten Jahren sind ständig im Jahre etwa 300 Strumaoperationen an zum Teil weithergereisten Patienten durchgeführt worden, eine Arbeit, die neben der reichlichen anderen noch mit bewältigt werden mußte, und eine Operationszahl, die wohl kaum eine andere Klinik aufweisen kann. Seine Tochter, Frau Dr. Bauer, hat seine Technik übernommen und dann zahlreiche Schilddrüsen-Operationen selbständig ausgeführt.
Weiter entwickelte Dr. Clement eine besondere Methode der plastischen Operation zur Beseitigung gehäuft auftretender Schultergelenksluxationen, ferner wandte er eine Operation an, die mich bei meinem Herkommen verblüffte: Die Behandlung des durchgebrochenen Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwüres mittels Drainage. Die Erfolge sprechen für sich. Es tut mir leid, daß Dr. Clement nicht mehr die Zeit gefunden hat, diese Dinge zusammenzustellen und mit anderen Methoden zu vergleichen.
Nach den bisherigen Worten mögen Sie glauben, daß Kenntnisse, Beherrschung der Technik und exakte Diagnostik allein im Vordergrund gestanden haben. Aber Sie alle wissen, daß Dr. Clement nicht nur Mediziner und Naturwissenschaftler war, sondern in einem ungewöhnlichen Maße Arzt und Mensch. Sein Leben erinnert an ein Wort von Paracelsus: "Im Herzen wächst der Arzt, aus Gott geht er, des natürlichen Lichtes ist er, der höchste Grund der Arznei ist die Liebe." Mit unseren Worten heißt dies: "Das Herz ist der Grund, aus dem die Einstellung zum Arzttum erwächst, von Gott hat er seine Gaben, dem natürlichen Lichte seines Verstandes und der Kenntnis der Nafurgesetze ist sein Tun unterworfen, und der höchste Grund der Arznei - nämlich die von ihm ausgehende Heilwirkung auf den Kranken - ist die Liebe." Und diese Liebe hat ihn beseelt, die Liebe zum Mitmenschen und zur Arbeit. Sie gab ihm immer wieder die Kraft, die fast unfaßlichen Leistungen zu vollbringen.
Als ich noch nicht lange hier in Schlüchtern war, erzählte mir Dr. Clement, daß er immer wieder versucht habe, sich mehr seiner Familie zu widmen und auch anderen Interessen nachzugehen. Aber stets sei durch unvorhergesehene Ereignisse alles Planen umgeworfen worden. Um diesem innerlich belastenden Zustand aus dem Wege zu gehen, habe er in zunehmendem Maße seine persönlichen Wünsche zurückgestellt und verzichtet, um ohne innere Spannung die an ihn herantretenden Aufgaben bewältigen zu können. Diese persönliche Anspruchslosigkeit, nicht nur in den kleinen Dingen des Alltags, sondern auch im Gestalten des privaten Lebens, war neben der urwüchsigen Konstitution eine der Voraussetzungen für die von uns immer wieder bewunderten Leistungen. Ich brauche keinem von Ihnen zu sagen, welches Opfer Sie, Frau Clement, und ihre Familie durch Ihren ständigen Verzicht für die Arbeit Ihres Gatten zur. Genesung seiner Kranken gebracht haben.
Während des 2. Weltkrieges versah Dr. Clement als Hauptchirurg neben dem zum Lazarett umgewandelten Schlüchterner Krankenhaus auch die Lazarette in Bad Soden, Steinau und Bad Orb. Unermüdlich setzte er sich für die ihm anvertrauten Verwundeten ein und half durch seine großen Kenntnisse in der Kriegs- und Wiederherstellungschirurgie viel Leid lindern.
Schwere Schicksalsschläge sind ihm und seiner Familie nicht erspart geblieben. Aber keine Verbitterung, kein Abschließen von der Welt, kein ständiges Hadern mit dem Schicksal waren die Folge. Als warmherziger, sofort Vertrauen erweckender, verständnisvoller Arzt hatte er weiter für jeden Kranken Zeit, ging er auf jede persönliche Not ein. Keine Mühe war ihm zu viel, wenn er irgendwie helfen konnte. In den letzten Jahren nahmen die beruflichen Belastungen ständig zu. Der von ihm schon seit der Jugend getriebene Sport und das spätere Basteln an seinem Auto, die als Entspannung dienten, mußten aufgegeben werden. Übrig blieben nur kurze Spaziergänge in die von ihm geliebte Natur. In den beiden letzten Jahren begann er - leider spät, allzu spät - den Bau seines Hauses, das er schon Jahre vorher entworfen hatte. Jeder freute sich mit ihm, wie er mit innerer Begeisterung am Wachsen seines Baues teilnahm. Wie hätten wir uns gefreut, wenn er noch einige ruhigere, glückliche Jahre dort mit seiner Familie hätte leben können. Aber der plötzliche Tod aus vollstem Wirken hat bei einem solch ungewöhnlichen und tätigen Manne auch etwas Tröstliches. Das doch einmal herantretende Ausscheiden aus seinem Wirkungskreis, ein Altern und vielleicht auch ein Dahinsiechen sind diesem urwüchsigen Manne erspart geblieben. Wenn unser Herr Dr. Clement auch nicht mehr unter uns weilt, so wirken seine ruhige, nie auf Effekt bedachte, schlichte Art, seine Lauterkeit, seine hohe Menschlichkeit gepaart mit großem Wissen, regem Interesse und Energie und sein Pflichtbewußtsein in allen, die ihn gekannt haben, weiter. Wir danken dem Schicksal, daß wir mit einem solchen Manne zusammen arbeiten durften.
(1896 - 1976)"Schlüchterner Gestalten", dieser Buchtitel, den Wilhelm Praesent seinem letzten Werk gab, ist eine seiner vorzüglichen Formulierungen, schlicht und einfach, aber den Inhalt der Schrift treffend charakterisierend.
34 bedeutende Personen aus sieben Jahrhunderten, die, jede auf ihre Weise, gestaltend auf das Leben in unserer Heimat eingewirkt haben, hat der Verfasser für uns zu neuem, geistigem Leben erweckt. Die Auswahl gerade dieser Gestalten und die Art ihrer Verlebendigung sagen nicht nur über diese aus, sondern lassen für den Freundeskreis Praesents viele Züge seines eigenen Lebens erkennen und neu verstehen. Die Kongenialität des Verfassers mit den von ihm geschilderten Gestalten ist unübersehbar. So ist für alle, die Praesent kannten und schätzten, selbstverständlich, daß seine Person, sein Leben und Wirken die von ihm dargestellte Reihe bedeutender Menschen unserer Heimat beschließen soll.
Wilhelm Praesent war Großstädter. Er wurde am 24. März 1896 in Frankfurt geboren. Sein aus Norddeutschland stammender Vater war Maler und Stukkateur, der seinem Sohn die künstlerische Begabung vererbt hat, die später in zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen ihren Ausdruck fand. Den Stammbaum der Mutter, einer geborenen Lotich, konnte Praesent bis zu der in Niederzell alteingesessenen Familie Lotz zurückverfolgen, aus der das Geschlecht der Lotichier hervorging, das den Reformator des Klosters Schlüchtern und dessen Neffen, den berühmten neulateinischen Dichter Petrus Lotichius secundus, hervorbrachte.
Praesent hat sich, und das ist typisch für seine Bescheidenheit, dieser genealogischen Entdeckung nie gerühmt, so daß nur wenige davon wußten, und diese erfuhren es mehr beiläufig, wenn er von dem Blut der Lotichier sprach, von dem er einige Tropfen geerbt habe. Das war kein Ausdruck des Stolzes, sondern die poetische Antwort auf die oft an ihn gestellte Frage, wie er als Großstädter zu solcher Verbundenheit mit dem Bergwinkel gekommen sei. Auch sein Hinweis auf das Schlüchterner Brot, mit dem er groß geworden sei, (das war in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in Frankfurt als besonders schmackhaft und gesund geschätzt) ist ein Beispiel für sein anschauliches Denken und Sprechen.
Auch eine geistige Beziehung bestand schon zwischen dem 14jährigen Schüler und Schlüchtern. In dem Frankfurter evangelischen Gemeindeblatt erschienen in regelmäßigen Abständen Aufsätze unter der Überschrift "Sonnenzeller Briefe" oder "Nebelzeller Briefe" von einem Georg Flemmig, die besonders die jungen Leute stark beeindruckten. Als Praesent 1910 seine Volksschullehrerausbildung in Schlüchtern begann, da suchte der Jüngling die Bekanntschaft des 17 Jahre älteren Lehrers. Bald bahnte sich zwischen den beiden geistesverwandten, wenn auch sonst so verschiedenen Menschen eine enge Freundschaft an, die für den Lebensweg des Jüngeren richtunggebend wurde. Praesent sagte das so: "Zur Heimat wurde mir die Schlüchterner Erde erst, als Georg Flemmig mir Heimat und den Weg zu ihr zeigte." Was die beiden noch fester verband, war ihr gemeinsamer, unerschütterlicher christlicher Glaube.
Nach der Abschlußprüfung im Frühjahr 1916 begann für den jungen Lehrer die unterrichtliche Tätigkeit, anfangs schnell wechselnd, in Schlüchtern, Frankfurt und Weilers. Das kleinbäuerliche Großenhausen im Kreis Gelnhausen hielt ihn drei Jahre fest. Mit zahlreichen Zeichnungen und Gedichten schildert der Großstädter die Entdeckung des Dorflebens, das er als Idylle erlebte, ohne die oft harte Wirklichkeit des Kleinbauerndaseins zu übersehen.
Endlich kam der Ruf ins Land seiner Sehnsucht. Die Berufung nach Weichersbach versetzte ihn mitten in eine geschichtsträchtige Landschaft, die ihn mit der Erforschung der drei Burgen und ihrer Geschichte beschäftigte. Wertvolle Ausgrabungsfunde, die er an der Burgruine Steckelberg machte, sind im Buttenzimmer des Heimatmuseums aufbewahrt.
In Breitenbach fand Praesent endlich einen festen Sitz. Von dort aus setzte er zu Fuß und mit dem Fahrrad seine intensive Bestandsaufnahme alles dessen fort, was für Geschichte, Volkskunde, Volkssprache, Kunst, Wirtschaft, soziale Struktur wichtig ist. Gemeinde- und Klosterakten und die Bestände vieler Archive wurden befragt. Im Mittelpunkt stand für Praesent immer der Mensch. Doch nicht nur die Lebenden waren ihm wichtig; auch das Heer der Toten, das ihm in mündlicher und schriftlicher Überlieferung oder auf Inschriften in Kirchen, Friedhöfen oder im Felde stehenden Steinkreuzen begegnete. "Ich kenne mehr Tote als Lebende," war eine seiner lapidaren Aussagen, die er im Vorwort der 2. Aufl. der Bergwinkelchronik so formulierte: "Die Vergangenheit ist einfach eine lebenswichtige Dimension. Die Toten wärmen die Lebenden".
In Breitenbach schloß Praesent im Jahre 1924 die Ehe. Bezeichnenderweise fand die Einsegnung am Ort seiner Konfirmation in der Frankfurter Lutherkirche am Geburtstag des Reformators statt. Drei Kinder kamen in Breitenbach zur Welt. Der Jüngste wurde in Remsfeld geboren.
1936 mußte Praesent das ihm zur Heimat gewordene Schlüchterner Land verlassen. Wegen seiner nie verhehlten Ablehnung des Hitlerschen Gewaltregimes verbannte man ihn in das abgelegene Dörfchen Mauswinkel im oberen Vogelsberg, wo einige Eintragungen in der Schulchronik zeigen, daß seine mutige Haltung ungebrochen geblieben war.
Doch der Kreis Schlüchtern konnte ihn nicht entbehren. Der berühmte, aber von den Nazis mißverstandene Ulrich von Hutten sollte mit einer Ausstellung geehrt werden. Da brauchte man den überragenden Kenner, der, vom Schulamt zu diesem Zweck beurlaubt, eine großartige Ausstellung zuwege brachte, die viele seltene Erinnerungsstücke enthielt. Da Praesent auch die Redaktion der Zeitschrift "Unsere Heimat" wieder übernehmen sollte, übertrug man ihm die Lehrerstelle in Vollmerz, von wo er bald nach Gomfritz ausweichen mußte. Die für seine große Familie unzureichenden Wohnungsverhältnisse zwangen ihn, da im Kreis Schlüchtern keine geeignete Lehrerstelle frei war, die Heimat erneut zu verlassen. Remsfeld im Kreis Hornberg war die nächste Station.
Nach Beendigung des Krieges und der Hitlerherrschaft veranlaßte die Stadt Schlüchtern die hessische Regierung, Praesent die Rektorstelle in Schlüchtern zu übertragen, die er aber bald niederlegte, weil ihm die Verwaltungsarbeit zuviel Zeit raubte, die er für seine Forschungs- und schriftstellerischen Arbeiten brauchte. Daß seine Unterrichtstätigkeit dadurch keinen Schaden erlitt, beweist die Liebe und Verehrung, die ihm seine Schüler bis zu seinem Tode entgegenbrachten, ja, darüber hinaus, wie deren Sonderschau zeigte, die sie der von der Buchhandlung Lotz veranstalteten Ausstellung der Werke Praesents hinzufügten.
Nachdem die schlimmen Nachkriegsjahre überwunden waren, konnten die kulturellen Dinge wieder in Angriff genommen werden. Rastlos war Praesent nun tätig. 1955 erschien die erste Nummer des beliebten Bergwinkel-Boten, der von der hessischen Vereinigung für Volkskunde zu den besten Heimatkalendern Hessens gezählt wird. In rascher Folge veröffentlichte Praesent im Bärenreiterverlag Kassel die Ergebnisse seiner jahrelangen Grimmforschungen; vor allem als Krönung der bereits 1933 begonnenen Arbeiten über den Maler Ludwig Emil Grimm, den Prachtband "L. E. Grimm, Erinnerungen aus meinem Leben". Der ganz große Wurf ist ihm gelungen mit dem Bändchen "Das Märchenhaus des deutschen Volkes", das, bald vergriffen, nun in zweiter Auflage erschienen ist. In zahlreichen Aufsätzen, die in der Fuldaer Zeitung und in den KinzigtalNachrichten erschienen sind, breitete Praesent sein umfassendes Wissen über Personen und Geschehnisse der Heimat aus, wobei man immer wieder von seiner lebendigen und anschaulichen Darstellungsweise gefesselt ist. Im Jahre 1968 erschien auf vielfachen Wunsch eine zweite stark erweiterte und reich bebilderte Ausgabe der Bergwinkelchronik
Der Aufbau des Bergwinkelmuseums im Lauterschlößchen ist das alleinige Verdienst Praesents. Das begann mit der Herrichtung der bei der Auslagerung zum Teil beschädigten und meist verschmutzten Gegenstände, eine oft schwere körperliche Arbeit, bei der ihn einige Frauen unterstützten. Die sinngemäße Aufstellung in anfangs beschränkten Räumen zeigt seinen ästhetischen Sinn. Wertvolle Stücke, vor allem in der Hutten- und Grimmstube, verdankt das Bergwinkelmuseum den guten Beziehungen seines Leiters zu den Nachkommen dieser Familien.
Schon als Seminarist kannte Praesent das Kloster bis in alle Einzelheiten, seien es die Glockeninschriften oder die von Professor Weise 1914 freigelegten karolingischen und romanischen Fundamente. Nach 1945 setzte er sich dafür ein, daß die Andreaskapelle, die jahrelang als Kohlenkeller gedient hatte, und die Huttengruft wieder hergerichtet und zugänglich gemacht wurden und daß die wenigen Grabsteine, die zum Teil als Abdeckungen von Abortgruben die Verwüstungen beim Umbau des Klosters im Jahre 1836 überlebt hatten, an würdigen Orten aufgestellt wurden.
Sein umfassendes Wissen vom Bau und der Geschichte des Klosters ist in dem von ihm verfaßten Klosterführer niedergelegt. Klosterführungen unter seiner Leitung beeindruckten Kenner und Laien durch ihre Anschaulichkeit und Praesents Fähigkeit, jede Frage sachgemäß zu beantworten. Auch seine Führungen durch das Heimatmuseum waren bewunderswert. Von jedem Gegenstand wußte er, oft humorvoll, den Verwendungszweck zu erläutern und Fragen nach der Herkunft zu beantworten.
Die rastlose und uneigennützige Tätigkeit Praesents für die kulturellen Belange der Stadt und des Kreises fand ihre Anerkennung durch die Ernennung zum Ehrenbürger am 10. September 1962. "Wieviel wäre verschüttet geblieben von der Vergangenheit, wenn Sie es nicht aus dem Dunkel herausgehoben hätten", sagte der damalige Landrat Jansen. Praesent beschrieb in seiner Dankesrede den Sinn seiner Arbeit: "Der irrt, der behauptet, es sei angesichts der weltumwälzenden Erfindungen und Ereignisse absurd, ein kleines Fleckchen Erde zu umklammern und zu lieben. Unausrottbar sind Heimatliebe und Heimatsinn. Sie stehen keinem großen Gedanken der Menschheit entgegen und können niemals veralten. Wer die Heimaterde segnet, der segnet den Erdball". Und er beschloß seine Rede: "Die Stadt hat mir den ehrenvollsten Brief meines Lebens gegeben. Sie hat damit die Schmach von mir genommen, die mir unter demselben Dach im Jahre 1935 von den braunen Männern widerfahren ist, als man mich für unwürdig befunden hat, auf dem Boden Schlüchterns zu leben". Bald wurde der bescheidene Mensch und große Schweiger bei den in Hessen tätigen Vereinigungen bekannt, die wie er die Vergangenheit wissenschaftlich erforschten. Die Grimmgesellschaft berief ihn in ihren Vorstand, die historische Kommission Kurhessen-Waldeck ernannte ihn zum Ehrenmitglied und der Geschichtsverein Hanau zum korrespondierenden Mitglied.
Die Begabung Praesents, sein Wissen und seine Gedanken andern mitzuteilen, zeigte sich besonders bei seinen Vorträgen. Obwohl er alles Pathos vermied, fesselte er die Zuhörer durch die Anschaulichkeit seiner Rede und das klare Bekenntnis zur Sache. An drei seiner Vorträge sei erinnert. Schon bald nach Kriegsende gedachte er in einer Gedenkfeier auf dem jüdischen Friedhof der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden. – Vor der Lehrerschaft des Kreises gab er 1955 ein anschauliches Lebensbild "der eindrucksvollsten Persönlichkeit des Bergwinkels", des 1950 verstorbenen Rektors und Ehrenbürgers Georg Flemmig. – Dreiviertel Jahre vor seinem Tode, am 21. April 1975, hielt der schon schwer Kranke in der Ruine Steckelberg seine nach Inhalt und Form originellste Ansprache "an die jungen und alten Freunde der Wahrheit und Freiheit", in der er ein von aller Romantik freies Lebensbild Ulrichs von Hutten zeichnete.
Praesents Lebensabend war durch Krankheit überschattet. Wenn auch seine körperliche Leistungsfähigkeit immer mehr abnahm, so blieb sein Geist bis zuletzt lebendig. Zwar nahm er mit der Herausgabe der Jubiläumsnummer des Bergwinkel-Boten Abschied von der Redaktion, lieferte aber weiterhin Beiträge für den Kalender und die Zeitungen. Vor allem blieb er bis zuletzt der zuverlässige Berater aller Heimatfreunde. Am 17. Januar 1976 schloß er die Augen und fand, von zahlreichen Freunden begleitet, seine letzte Ruhestätte in "seiner" Heimaterde.
Der bescheidene, zurückhaltende Mensch, der selten von sich sprach, enthüllte sein tiefstes Wesen in zwei Gedichten, die sich nur dem ganz erschließen, der ihn wirklich kannte. In dem ersten enthüllt er die geistigen Grundlagen seines Seins, die Heimat und deren große Geister. – In dem zweiten, fünf Wochen vor seinem Tode niedergeschriebenen Gedicht spricht der gläubige Christ.
- Karl Schmerbach
AN DER QUELLE DER KINZIG
Ist auch gering nur ihr Schoß,
treulich schenkt' Element er des Lebens.
Ist auch bescheiden ihr Lauf,
Hochkreis des Lebens kränzt' seinen Saum:
Hutten, der Wächter, rief hier sein Volk an,
Lotichius gab ihm der Leier Wohllaut,
Grimmeishausen hob lachend den Spiegel,
Ehrfurcht lehrt' er das Bruderpaar Grimm.
DANK IM 80. LEBENSJAHR
Ich danke Dir, daß ich Dich nennen darf,
ich danke Dir, daß ich Dir danken darf
für Eltern, Frau und Kinder, Enkel, liebe Freunde,
für schöne Erdenwege, Tier und Pflanzen.
Ich danke auch für alles Dunkle, Schwere,
mit Zittern nur sprech' ich es aus,
was ich nicht fassen konnte:
Es kam von Dir aus ewiger Vaterhand
(1925 - 2006)
Der Vordenker und Erklärer der modernen Weltwirtschaft stammte aus Schlüchtern-Vollmerz
von Ernst Müller-Marschhausen
Die Großen des Main-Kinzig-Kreises Als vor einem Jahr der stellvertretende Landrat des Main-Kinzig-Kreises, Günter Frenz, das "Bildungshaus" in Gelnhausen eröffnete und zigtausend Interessierte das campusartige Lehr- und Lernzentrum bestaunten, registrierten viele mit Freude, dass die 32 Seminarräume nicht schematisch nummeriert wurden, sondern dass hier Individualität großgeschrieben wird und Weltoffenheit gepaart mit regionaler Identifikation: Jeder Raum hat einen prestigevollen Eigennamen erhalten - und zwar den Namen einer historisch bedeutenden Persönlichkeit, die zwischen dem Hanauer Land und dem Bergwinkel geboren wurde oder hier jemals gelebt und gewirkt hat. Da begegnet uns neben den Namenspaten Grimmelshausen, den Brüdern Grimm und Ulrich von Hutten und all den anderen Großen aus der Region, deren Geschichte jedes Schulkind bei uns kennt, so auch der Name Theodor Levitt.
Bei diesem Namen stutzte mancher. Wer ist das, mag er sich gefragt haben, den die Planer dieses weltoffenen Bildungshauses derselben Premiumklasse zurechnen wie unsere vertrauten heimatlichen Heroen aus Kultur und Wissenschaft? Aus welchem Winkel unseres Kreises kommt der eigentlich? Und was zeichnet ihn und sein Lebenswerk aus, dass man ihm so einen Ehrenplatz in der Galerie der ganz Großen unserer Heimat einräumt?
"Wir haben seinen Namen, seine Persönlichkeit und sein Werk fest verbunden mit einem Lernstudio im 'Campus berufliche Bildung', erklärt der Direktor des Bildungshauses Dr. Karsten Rudolf, denn hier qualifizieren sich berufstätige Studierende in BWL-Studiengängen weiter, nach Programmen, die wir gemeinsam mit Unternehmen und Hochschulen entwickelt haben. Wer hier lehrt und lernt, Dozenten wie Studierende, den sollen die Ideen eines der bedeutendsten Vordenker moderner Marketingtheorien inspirieren: Theodore Levitt aus Vollmerz."
Theodore Levitt: Vordenker und Erklärer der modernen Weltwirtschaft
In Theorie - und ebenso in der Praxis – der internationalen Wirtschaft ist sein Name bekannt. Hier gilt Theodore Levitt als eine Autorität, hier genießt er das Ansehen eines der populärsten Wirtschaftswissenschaftler der Welt. Er war Professor an der Harvard Business School (HBS) in Boston und Herausgeber der "Harvard Business Review" (HBR) Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze über Marketing und Management. Er besetzte seit den 1960er Jahren das wirtschaftswissenschaftliche Theoriefeld, war aber auch geschätzt als Kapazität in der praktischen Beratung weltweit agierender Unternehmen wie Saatchi & Saatchi.
Kundenorientierung statt Produktionsorientierung (1960)
Mit einem Paukenschlag begann er 1960 seine Karriere an der HBS: Sein Aufsatz "Marketing-Myopia" (Marketing-Kurzsichtigkeit) machte ihn über Nacht bekannt, in den USA und in der westlichen Welt. Er ist bis heute der am häufigsten gedruckte Artikel der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur. Innerhalb weniger Wochen sind rund 900.000 Exemplare gekauft worden. Dieser Aufsatz hat den legendären Ruf des Harvard-Ökonomen begründet und ihm die Tür in die Geschichte seiner Disziplin geöffnet.
Was war die bahnbrechende neue Botschaft, die sein "Manifest" damals offenbarte? Seine Argumentation ging zunächst aus von einer Analyse der Wirtschaft in den Industrieländern der westlichen Welt: Die 1950er Jahre hatten einen Rückgang der enormen Nachfrage der Nachkriegszeit gebracht und zu einer Marktsättigung geführt. Unternehmen, die wie bisher ihren Blick verengt nach innen richten und weiter auf die Verbesserung ihrer technischen Betriebsabläufe und die Massenproduktion mit hohen Stückzahlen zu niedrigen Stückkosten setzen, riskieren ihren Bestand, warnte er. Ein "Weiter so" dieses kurzsichtigen Wirtschattens auf dem bisher erfolgreichen, aber veralteten Wachstumspfad werde in die Sackgasse führen. Die einzige Chance zu überleben und zu wachsen habe ein Unternehmen nur dann, wenn es die Sichtblenden beiseite räumt, die ihm den Blick nach draußen auf den sich schnell wandelnden Markt versperren. Also weg von der Produktionsorientierung, war seine Botschaft, hin zur Kundenorientierung, weg vom Verkäufermarkt, hin zum Käufermarkt Nur noch dasjenige Unternehmen habe eine gute Zukunft, das seine Organisation und sein Management streng an den Bedürfnissen und Wünschen der Kunden ausrichtet. Zugespitzt, lautete der Appell des Harvard-Professors: Jedes Unternehmen muss sich als Dienstleister verstehen.
Sein Appell hat damals die Wirtschaftsführer in den Industrieländern der westlichen Welt aufgeschreckt. Er sollte ihr Denken grundlegend und nachhaltig ändern. Die Weichen fürs Marketing der Unternehmen jeder Größe wurden neu gestellt. Eine neue Ära des Marketings begann. Damals hat man seine Botschaft von der Priorität der Kundenorientierung vor allem anderen unternehmerischen Handeln als umwälzend empfunden. Heute ist sie Allgemeingut, und ihr Autor nimmt längst seinen Platz in der Phalanx der Klassiker ein. ln den vergangenen Jahrzehnten hat man seine These vom Vorrang des Käufermarkts durch ausgeklügelte psychologische Techniken immer feiner ausdifferenziert. Kundenorientierung reicht heutzutage weit über die Ausrichtung an Kundenwünschen hinaus, bis hin zum gezielten manipulativen Wecken von Wünschen.
"Globalisierung macht uns alle gleich" (1983)
Gut zwanzig Jahre später, 1983, leitete er wiederum einen grundlegenden Wandel im Marketingdenken ein: Mit seinem bahnbrechenden Artikel über "Globalization of Markets" erklärte er das Wesen und Funktionieren der modernen Weltwirtschaft und popularisierte Begriff und Vorstellung von der Globalisierung. In kurzer Zeit war das neue Wort in aller Munde und hat sich die dauerhafte Aufnahme in unsere Alltagssprache gesichert. Es ist seitdem zu einem Kernbegriff der wissenschaftlichen und politischen Diskussion über die weltweiten Veränderungen geworden. Die drei Kernthesen des Marketingpapstes aus Boston - so titulierte ihn der SPIEGEL - auf den Hauptnenner gebracht:
Sein Artikel ist zunächst einmal eine nüchterne Analyse des Ist-Zustandes der internationalen Verflechtung der Multis und eine prognostische Einschätzung der globalen Trends des Marketings im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts. Doch die Analyse und Prognose des Harvard-Professors entfalteten eine neue vorwärtsgerichtete unternehmerische Dynamik: Sie erfasste jetzt auch mittelständische Unternehmen. Sie richteten ihre Strategien neu aus und gingen mit Nachdruck daran, globale Kooperationen aufzubauen, wie etwa aus unserer heimischen Region die WOCO-Unternehmensgruppe in Bad Soden-Salmünster. Ein aktueller Vorgang, der zeigt, wie schnell die weltweite Verflechtung vorangeschritten ist und heutzutage als gang und gäbe erfahren wird, ist der Kauf des Gründauer Unternehmens Putzmeister durch einen chinesischen Konzern im Jahr 2012, hier vorwiegend mit der Absicht, sich das Know-how zu sichern.
Theodore Levitts Begriff "Globalisierung" fassen wir heute viel weiter, und seine Analyse und seine Einschätzung der Chancen der Globalisierung diskutieren wir inzwischen differenzierter und kontroverser angesichts mancher ihrer negativen Auswirkungen. Dazu zählen wir, um nur wenige Stichworte anzuführen, den ökologischen Raubbau, den Verlust regionaler Vielfalt, die Schere zwischen Arm und Reich, die globalisierten Arbeitsverträge, die globale Finanzkrise und die " Heuschrecken"-Bedrohung. Der Begriff "Heuschreckendebatte" wurde im April und Mai 2005 von Franz Müntefering geprägt, der das Verhalten mancher " anonymer Investoren" mit Heuschreckenplagen verglich.
Trotz der kritischen Sichtweise von heute, bleibt unbestritten, dass seine Kernthesen in der Wissenschaft und in der unternehmerischen Praxis damals eine Epoche machende Bedeutung entfalteten. Sie wurden fortentwickelt, vielfältig variiert und sind äußerst populär. Ein Beispiel dafür sind die in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erarbeiteten modernen Unternehmensleitbilder. Kaum eines kommt aus ohne den Standard gewordenen Slogan "Global
denken - lokal handeln". Ja, es bleibt Theodore Levitts unstreitiges Verdienst: Er war es, der den Zustand der Weltwirtschaft jener Jahre und ihren unaufhaltsamen Marsch in Richtung weltweite Vernetzung transparent gemacht und die westliche Welt für das Phänomen Globalisierung aufgeschlossen hat.
Fachkompetenz, Sprachgewalt und Intuition
Was seinen Einfluss auf Wissenschaft und Praxis so nachhaltig machte, schildert seine frühere Studentin und spätere Mitherausgeberin des HBS Alumni Bulletin Julia Hanna. Es waren zum einen seine profunde Fachkompetenz. Hinzu kamen sein Gespür für das Entstehen von Megatrends und ebenso seine innovative Fähigkeit. Zum anderen war es sein meisterhafter, geradezu genussvoller Umgang mit der Sprache; sie verlieh seinen Argumenten Überzeugungskraft und begeisterte die Menschen für seine Visionen. Schon als Schüler redigierte er die Zeitung seiner Highschool, und als er als Soldat aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war, arbeitete er zunächst als Sportberichterstatter für die Tageszeitung 'Dayton Journal Herald'. Als er in 2006 nach langer Krankheit in Belmont, Massachusetts, gestorben war, rühmte Julia Hanna, in einer Würdigung seines Lebenswerkes gerade auch seinen souveränen Umgang mit der Sprache. Wir finden darin den Satz: "Von dem Augenblick an, als er aus seinem Heimatdorf Vollmerz als gerade Zehnjähriger auswanderte, entwickelte er ein besonderes Gespür dafür, das treffsicherste Wort punktgenau an die richtige Stelle zu setzen."
Theodore Levitt erhielt für seine wissenschaftlichen Leistungen auf den Gebieten des Marketings und der Managementtheorien viele ehrenvolle Auszeichnungen. Die Studierenden verehrten ihren populären und leutseligen Professor, mit seiner Lust an intellektuellem Provozieren, und was in der Wissenschaft Rang und Namen hatte, begegnete ihm mit kollegialem Respekt.
Geboren in Vollmerz, Haus Nr. 48
Das Elternhaus des Harvard-Professors steht in Vollmerz. Hier wurde er am 1. März 1925 im Haus Nr. 48 geboren. Das ganze Anwesen war nicht größer als 808 m², davon entfielen 235 m² auf den bebauten Hofraum, 95 m² auf den Garten und 477 m² auf den Hausgarten. Angebaut war eine Scheune mit einem Ziegenstall und einem Hühnerstall. Damals waren die Häuser des 900 Einwohner zählenden Dorfes vom ersten bis zum letzten noch einfach schematisch durchnummeriert, heute hat es die Anschrift Borngasse 1. Trotz einiger Sanierungen, die es erlebt hat, haben sich seine Dimension und seine äußere Gestalt kaum verändert. Man kann noch heute den Zuschnitt gut erkennen, den es vor acht Jahrzehnten hatte.
Zu der kleinen jüdischen Gemeinde - in einer Urkunde aus dem späten 16. Jahrhundert ist sie erstmals erwähnt - zählten in jenen Jahren 12 Familien. Eine der alteingesessenen Familien waren die Grünebaums, eine Handwerkerdynastie. Seit mindestens vier Generationen wurde die Schuhmacherwerkstatt vom Vater auf den Sohn vererbt. Der letzte Grünebaum, Jacob, geboren 1877, der - übrigens als einziger Handwerker der Vollmerzer Judenschaft sein Geld verdiente, die anderen waren Kaufleute und Kleinhändler -, hatte keinen Sohn, der als sein Nachfolger die Werkstatt hätte übernehmen und die Familientradition fortführen können, nur die Tochter Regina, geboren am 31. August 1889.
Die frommen Juden und ihre christlichen Nachbarn in Vollmerz
Hier wollen wir den Lauf der Geschichte über Theodore Levitts Leben für einen Augenblick aufhalten und einen Blick auf das dörfliche Umfeld werfen, in dem er seine Kindheit verbrachte. Die Grünebaums im Haus Nr. 48 waren wie all die anderen Vollmerzer Juden fromm und gottesfürchtig und hielten das Gebot, den Sabbat zu heiligen, gewissenhaft ein. Alte Vollmerzer wissen zu erzählen, dass die Männer am Sabbat nach dem Gottesdienst von der Synagoge aus - sie stand bis 1973 auf dem heutigen Grundstück Hinkelhoferstraße 6 - zu einem Spaziergang aufbrachen und genau dort wieder kehrtmachten, wo das "Konsumpfädchen" (heute der Sportplatzweg) in die Straße nach Ramholz mündet, denn die Sabbatregeln verboten es ihnen, am Tag des Herrn, der allein Gott gewidmet ist, mehr als 1.000 Schritte zu tun. Doch im häuslichen Alltag unterschied sich das karge Leben der kleinen Leute im Land der armen Hansen kaum voneinander, ob sie Juden waren oder Christen, wie uns unter anderen der Lehrer Israel Nussbaum in seinen Lebenserinnerungen berichtet. Und ebenso wenig unterschied sich der Alltag der Kinder und jungen Leute. Sie gingen gemeinsam in die Volksschule, die Jungen schlugen und vertrugen sich und schlossen Freundschaften. Manche waren so unverbrüchlich, dass sie den Holocaust überdauerten und 1945 nach der Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder auflebten und bis ins hohe Alter hinauf Bestand hatten. "Es gab bei uns keine Spur von Ressentiments", erinnert sich Theodors Klassenkamerad, der Glasermeister Johannes Kirchner. Natürlich sind Zeugnisse subjektiv. Selbstverständlich sind sie nur so solide, wie Erinnerungen von Menschen sein können.
Der Bräutigam aus der Fremde
Zurück zur Familie Grünebaum im Haus Nummer 48: Weil der alte Schuster Jacob Grünebaum nur die eine Tochter hatte und deshalb einen Schwiegersohn suchen musste, der vom Fach war und die Werkstatt fortführen konnte, wurde ein Schadehen eingespannt, um den passenden Bräutigam und Nachfolger ausfindig zu machen. Es gibt zwar keinen Beleg dafür, dass sich die Grünebaums eines traditionellen jüdischen Heiratsvermittlers bedienten, eines Schadchens, aber es spricht vieles dafür, dass es so war, denn wie sonst hätte man den heiratsfähigen und heiratswilligen und zudem berufsgeeigneten Schwiegersohn ausgerechnet im weit entfernten Kassel ausfindig gemacht. Dort lebte Boris Levitin in der Heinrichstraße Nr. 5. ln Nowosi im Departement Tschernigow, Ukraine, war er am 31. Dezember 1891 geboren. Als Soldat des Zaren geriet er im Ersten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft, und er blieb danach in Kassel und erwarb die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Hochzeit mit der Schuhmacherstochter fand dann am 17. Oktober 1922 in Vollmerz statt. Als Trauzeugen unterschrieben der Lehrer Friedrich Euler und der Handelsmann David Nussbaum.
ln die Familie Grünebaum und in ihren eingeführten Werkstattbetrieb einzuheiraten, war für den mittellosen Boris eine gute Partie. Für die Vollmerzer war der Neubürger nur "der Boris". Er war ein fleißiger Handwerker und brachte es bis zum Schuhmachermeister. Er galt als strebsam und umgänglich, und bald war er ein so angesehener Mitbürger, dass ihn die Eitern in den Klassenelternbeirat der Schule wählten. Seine Frau schenkte ihm vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen: Albert, *12. August 1923, Theodor, *1. März 1925, Thegla, *5. September 1928 und Henni, *12. März 1931.
Theo, so rief man ihn zuhause und im ganzen Dorf, wurde am 15. April 1931 in die Vollmerzer Volksschule mit ihren 130 Schülerinnen und Schülern aus den Dörfern Vollmerz, Ramholz und Hinkelhof und - nur die evangelischen - aus Sannerz eingeschult. ln seiner Klasse war er der einzige jüdische Schüler. Über seine Leistungen und sein Verhalten in der Schule wissen wir nichts. Ein Stubenhocker und Einzelgänger war er ganz und gar nicht, erinnert sich sein Schulfreund Johannes Kirchner, sondern ein Junge, mit dem man gerne spielte und den man gerne zum Freund hatte. Seine Schulakte weist keine Besonderheiten auf, bis auf die Eintragung gegen Ende des 4. Schuljahres: " entlassen am 22. II. 35, ausgewandert nach Amerika".
Theodors Familie muss Vollmerz verlassen
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann die Ausgrenzung der Juden aus dem wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland. Die Emigration begann. Zu denen, die ihr Heimatdorf verlassen mussten, gehörte auch die Familie Levitin. Ihr Haus erwarb mit Kaufvertrag vom 14. Februar 1935 der Weichensteller Kaspar Zinkhan aus Vollmerz für 4.500 Reichsmark. Damit wir uns eine Vorstellung von dem Kaufpreis machen können: 1935 erhielt der Reichsbahnfacharbeiter einen Stundenlohn von 0,87 Reichsmark (RM). Eine Kuh kaufte der Landwirt für 307 RM, und der "Opel-Olympia" kostete 2.500 RM, was heute etwa 10.000 Euro entspricht. Kaspar Zinkhans Haus blieb in der Familie und gehört heute seiner Urenkelin Sandra Weigand-Pauli in Schlüchtern-Elm. Theodor und seinem Bruder wird der Abschied von Vollmerz schwergefallen sein. Einige Begebenheiten lassen erkennen, dass ihre Herzen an ihrem Heimatdorf hängen blieben. Als gestandene Männer, in ihrer neuen Heimat USA fest verwurzelt, besuchten sie ihre ehemaligen Freunde und Nachbarn in dem Dorf, aus dem sie vertrieben worden waren. Ja, Theodore ließ es sich nicht nehmen, seinen gleichaltrigen Freund und Klassenkameraden, den Glasermeister Johannes Kirchner, an dessen 70. Geburtstag am 7. Mai 1995 in Vollmerz zu überraschen und ihm persönlich zu gratulieren. Anfang der 1970er Jahre hat Albert Vollmerz besucht. in einem Aufsatz für den "Bergwinkel-Boten" hat er seine Erlebnisse und Eindrücke in einem geradezu schwärmerischen Duktus niedergeschrieben, was wie eine Liebeserklärung an seine alte Heimat anmutet. Bei einer anderen Gelegenheit bedankte er sich nach einem mehrtägigen Besuch in seinem Heimatdorf sogar in einem offenen Brief begeistert über die "Freundlichkeit und Hochachtung und die warmen menschlichen Gefühle", mit denen er von ehemaligen Nachbarn und Schulfreunden empfangen und aufgenommen wurde.
Emigration in die USA
Über den Abschied aus der Heimat und die Überfahrt in die USA wissen wir aufs Beste Bescheid, denn gleich nach der Ankunft der Familie Levitin in ihrer neuen Heimat in Dayton, Ohio, schrieb Theos älterer Bruder Albert einen zwölfseitigen überschwänglichen Brief an seine beiden Freunde Fritz Ochs und Leonhard Link und seinen Lehrer Klaus Buss. Darin schilderte er seine im Tagebuch festgehaltenen Erlebnisse auf der achttägigen Seereise, und er bedauerte, dass "ihr das alles nicht miterlebt habt". Dieser schwärmerische Brief enthält nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass die Familie Levitin keine Urlaubsreise gemacht hat, sondern dass ihre Emigration eine lebensrettende Entscheidung war, wie es sich im Nachhinein erwies, denn die Vollmerzer Juden, die bis 1940 ihr Leben noch nicht durch Emigration in Sicherheit bringen konnten, wurden deportiert und umgebracht. 12 waren es, unter ihnen das Mädchen Margot Grünfeld, dem Wilhelm Praesent in seiner Ansprache am 7. August 1949 auf dem alten Judenfriedhof in Schlüchtern - stellvertretend für die anderen Opfer - ein Denkmal setzte.
Gleich nach der Machtergreifung begann auch in Vollmerz die Verfolgung der Juden. Der Führer der NSDAP-Ortsgruppe forderte zum Boykott der jüdischen Bürger auf und drohte seinen Mitbürgern in massiver Weise: "Wer weiter bei Juden kauft, verliert den Anspruch am Aufbau des Dritten Reiches mitgearbeitet zu haben und darf sich nicht wundern als Gegner des Nationalsozialismus betrachtet zu werden. Er ist ein Volksverräter und hat die daraus entstehenden Folgen seiner Handlungen selbst zu tragen." Dass Levitins Kinder nichts von der beginnenden Ausgrenzung der Juden aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben und ihrer Diskriminierung wussten und die Emigration fröhlich wie einen Familienausflug erlebten, zeigt uns, dass die Eltern nicht mit ihren Kindern über ihre Ängste gesprochen und sie für sich behalten haben, und dass es ihnen geglückt ist, all ihre Sorgen um ihre Existenz und ihr Leben von ihren Kindern fernzuhalten und ihnen ein Leben in "Normalität" vorzuspielen.
Ankunft in den USA
Am 28. Februar 1935, legte der 21.450 BRT große Passagierliner der HAPAG "Deutschland" mit den sechs Levitins an Bord in Cuxhaven ab und erreichte, nachdem er in England, Frankreich und Irland weitere Passagiere aufgenommen hatte, am 13. März 1935 New York. Dort erwartete sie Theo Nussbaum, ebenfalls ein geborener Vollmerzer, der schon in den 1920er Jahren ausgewandert war. Mit dem Zug ging es weiter nach Dayton, Ohio, wo sie die gut situierten Verwandten des Vaters "freudig empfingen" und sie beim gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Start kräftig unterstützten. Die Familie Levitin aus Vollmerz war glücklich angekommen - in ihrer neuen Heimat und in ihrem neuen Zuhause. Gerettet! So wie ihre Verwandten amerikanisierte sie jetzt ihren Namen in Levitt. Die eiden Jungen und die siebenjährige Thegla wurden schon zwei Tage nach ihrer Ankunft in die Schule aufgenommen.
Aus dem Vollmerzer Theo wurde vom ersten Schultag an "Ted". Sein ganzes Leben lang behielt er im Verwandten- und Freundeskreis und bei seinen Studenten und Professorenkollegen diesen Namen. Noch als Schüler wurde er zur Army eingezogen und auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt. Nach seiner Rückkehr erwarb er den High School-Abschluss, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Ohio State University, schloss sein Studium 1951 mit dem Doktor-Examen ab, und danach habilitierte ihn die University of North Dakota. 1959 folgte er dem ehrenvollen Ruf an die Harvard Business School in Boston. An dieser - vielleicht renommiertesten Business School der Welt - wirkte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1990. Der frühere Dekan der Eliteuniversität, Jay Light, sagte in einer Würdigung seines langjährigen Kollegen: "Ted Levitt ist eine Riese in der Geschichte der HBS".
Theodore Levitt heiratete 1948 Joan Levy. Aus ihrer Ehe gingen die Söhne Peter und John und die Töchter Kathrin, Laura und Frances hervor. Die Familie ließ sich in der Kleinstadt Belmont, Massachusetts, nieder. Hier starb der in Vollmerz geborene Weltökonom im Alter von 81 Jahren am 28. Juni 2006. Mit seinem Lebenswerk in den Wirtschaftswissenschaften hat er sich einen ständigen Sitz erworben in der Gesellschaft ihrer Klassiker.
Vollmerz wird seinen großen Sohn wohl mit einer Gedenktafel an seinem Geburtshaus ehren.
Auszug aus dem Bergwinkel-Boten Heimatkalender 2013, mit freundlicher Genehmigung des Autoren Ernst Müller-Marschhausen.
Anmerkungen:
LEVITT, Theodore: Marketing-Myopia (Marketing-Kurzsichtigkeit). Harvard Business Review (HBR) July-August 1960, S. 45-56. Ders.: The Globalization of Markets (Giobalisierung der Märkte). Harvard Business Review (HBR) May-June 1983, S. 92-102. Ders.: Die unbegrenzte Macht des kreativen Marketing, Landsberg 1984. LEVITT, Albert: Reunion in the Old Hometown. In: Bergwinkel-Bote 29 (1978), S. 40-42. Ders.: Offner Brief an die Vollmerzer vom 15.8.1975. In: Mitteilungsblatt der Stadt Schlüchtern, 4 Jg. Nr. 37 (12.9.1975), S. 5. Ders.: Brief vom 13.3.1935 an seinen Lehrer Klaus Buss (StadtA Schlüchtern) - FEDER, B. Barnaby: Theodore Levitt. 81, Who Coined the Term 'Globalization', ls Dead. In: New York Times, 6./2006. Online vom 20. 2. 2012. Handelsblatt Management Bibliothek Bd. 3: Die bedeutendsten Management-Vordenker. Frankfurt M 2005. (hier: S. 110-115). HANNA, Julia: Ted Levitt Changed My Life. In: Harvard Business School - Working Knowledge. Online vom 20.2.2012 NUSSBAUM, Israel: "Gut Schabbes!". Berlin 2002. PRAESENT, Wilhelm: Brief an eine Tote. In: Bergwinkel-Bote 27 (1976), S. 105f. SPIEGEL 41 (1984) v. 8.10.1984, Werbung. STEINNFELD, Ludwig: Die Juden von Vollmerz. in: Bergwinkel-Bote 34 (1983), S. 35-39. - Schule Vollmerz: Archiv und Chronik: Schülerverzeichnisse und Versäumnislisten 1932/1933 bis 1934/1935; Bericht des Lehrers Klaus Buss aus dem Jahr 1957; Personenstandsregister der Gemeinde Vollmerz (bis 1938). HHSTA Wiesbaden, Abt. 519/A Wi-Fu-A-26841-J. Bundesarchiv: Gedenkbuch - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945. Amtsgericht Schlüchtern, Grundbuchblatt Bd. VI BI. 173 Vollmerz (19.7.1935). Bürgermeister Vollmerz: Liste der jüdischen Einwohner in Vollmerz. Erstellt am 10.9.1948 (StadtA Schlüchtern). N.S.D.A.P.- Ortsgruppe Vollmerz: Aufruf an die Vollmerzer "Deutsche Volksgenossen ... ", 1934 (StadtA Schlüchtern). - Interviews: Kirchner, Johannes, *7.5.1925 Vollmerz, Mitschüler und lebenslanger Freund Levitts, jetzt: München und dortiges Interview am 16.11.2011. Kirchner, Karl-August. *9.1 .1928 Vollmerz. Hauptlehrer der Volksschule Vollmerz, dortiges Interview am 17.10.2011.
Bild 1: Portrait Theodore Levitt (www.albertsuckow.com/growth-industry)
Bild 2: Theodore Levitt (www.historiadaadministracao.com.br / Historia da Administraçao)
Bild 3: Geburtshaus (Ernst Müller-Marschhausen / Stadtarchiv Schlüchtern)
Bild 4: Synagoge Vollmerz (Ernst Müller-Marschhausen / Stadtarchiv Schlüchtern)
Bild 5: Schule Vollmerz (Ernst Müller-Marschhausen / Stadtarchiv Schlüchtern)
(1915-2004)
Ein Lebensbild zu seinem 100. Geburtstag von Ernst Müller-Marschhausen - Viele Leben
"Was Dr. Reinhold Anderlitschek in seinem Leben alles gemacht hat, reicht für fünf Leben. Ob in Politik, Sport oder Kultur: Er engagierte sich überall". So resümierte der Redakteur der "Gelnhäuser Neuen Zeitung" Andreas Ziegler unter dem Titel "Großer Bahnhof in Schlüchtern: Der 'Doktor' wird morgen 80 Jahre alt" Leben und Wirken des Jubilars, der von 1965 bis 1980 als Bürgermeister die Geschicke der Bergwinkelstadt gelenkt und wie kein anderer ihre politische Kultur geprägt und darüber hinaus Jahrzehnte lang in vielen Ämtern und Funktionen die Kreispolitik maßgeblich mitgestaltet hat. Und als er im 88. Lebensjahr starb, trauerten die Schlüchterner um ihren "Altbürgermeister", dem alle nur Gutes nachsagten, denn - so brachte es sein langjähriger journalistischer Begleiter Norbert Stenzel, Redaktionschef der "Kinzigtai-Nachrichten" auf den Punkt:"Politik war des Doktors Herzenssache".
Nur durch Zufall Schlüchterner Geboren wurde Reinhold Anderlitschek am 15. Oktober 1915 in Leitmeritz im Sudetenland, einer Stadt mit seinerzeit 15.000 mehrheitlich deutschen Einwohnern (80%). Nach dem Stand seines Vaters, des Verwalters einer Landwirtschaftsschule, zählte die Familie zum gut situierten bürgerlichen Milieu der Stadt, in dem die Jungen und Mädchen sorgenfrei ihre Kindheit und Jugend erleben konnten.
Nach dem Abitur am Humanistischen Gymnasium seiner Heimatstadt nahm Reinhold Anderlitschek an der rechts- und staatswissenschaftliehen Fakultät der Deutschen Universität in Prag (Karls-Universität) das Studium auf und promovierte 1940 zum Doctor iuris. Der Krieg unterbrach seine weitere juristische Ausbildung im Reichsjustizdienst, die er als Gerichtsreferendar und Assessor am 4. Juli 1939, zunächst am Amts- und Landgericht Leitmeritz, gerade aufgenommen hatte. Von März 1940 bis zum Kriegsende war er Soldat, zuletzt Leutnant, auf den Kriegsschauplätzen in Jugoslawien und in der Sowjetunion. Er hatte das Glück, unversehrt heimzukehren. Doch hier sperrten ihn die Tschechen ein, u. a. ins ehemalige Konzentrationslager Theresienstadt. Nach den Gewaltorgien der ersten Nachkriegsmonate begann die organisierte Vertreibung der enteigneten und entrechteten drei Millionen Deutschen aus dem Sudetenland, und Anfang Mai wurden auch die Anderlitscheks mitall den anderen Leitmeritzern aus ihrer Heimat vertrieben.
Als ein Transport mit den Leitmeritzern am 3. Mai über die Grenze rollte, hatte gerade das Auffanglager Mottgers gemeldet, dass man wieder einen Schub Lagerbewohner in Häusern und Wohnungen in der Region zwangsweise einquartiert habe und deshalb jetzt einen Teil des Vertriebenentransports aus Leitmeritz aufnehmen könne. So kamen die Anderlitscheks durch Zufall in ihre neue, kalte Heimat: Über den Zielbahnhof Sterbtritz ins Lager Mottgers und nach einigen Wochen von dort in eine Notunterkunft in Schlüchtern.
Angestellter des Landratsamts des Kreises Schlüchtern
Er hatte Glück. Schon am 1. August 1946 fand er eine Anstellung im Landratsamt des Kreises Schlüchtern. Landrat Walter Jansen übertrug ihm die Verantwortung für die Rechtsabteilung sowie über das Kreiswohnungsamt mit dem Auftrag, die 7000 bettelarmen Neuankömmlinge aus den deutschen Ostgebieten in den 41 Dörfern und vier Städten des Kreises Schlüchtern behelfsmäßig unterzubringen. Nicht nur der Landrat konnte sich auf seinen Allround-Mitarbeiter verlassen, sondern auch seine Kolleginnen und Kollegen schätzten seinen juristischen Sachverstand und seine Konzilianz. Ein Zeichen dafür ist seine wiederholte Wahl in den Personalrat, bis zu seinem Ausscheiden aus der Behörde im September 1954.
Geschäftsführer des Landessportbundes
Obwohl inzwischen fast 40 Jahre alt, war er nach wie vor bestrebt, seinen juristischen Vorbereitungsdienst für die Laufbahn des Richters und Staatsanwalts fortzusetzen, den er zu Kriegsbeginn hat unterbrechen müssen. Er trat deshalb als Rechtsreferendar und Beamter auf Widerruf seinen Dienst beim Hessischen Minister der Justiz an und absolvierte mehrere einschlägige Stationen, unter anderem auch in den Kanzleien der Rechtsanwälte Dr. Ursula Schade-Piamsch und Dr. Hermann Weber in Schlüchtern.
Doch da öffnete sich ihm die Chance, die Geschäftsführung des Landessportbundes Hessen zu übernehmen. Was ihn für diese Position qualifizierte, waren seine berufliche Versiertheit, seine Leistungen als Sportler und Sportmanager und gewiss auch sein bürgerlicher Habitus, aber mehr noch seine menschliche fair play-Haltung: Integrität, Verlässlichkert und Ehrgefühl. Er verstand es, den Hessen-Sport mit seinen damals 700 000 Mitgliedern in 4000 Vereinen auch nach außen hin gegenüber dem politischen und gesellschaftlichen Umfeld erfolgreich zu präsentreren. Reinhold Anderlitschek trat sein neues Amt am 1. August 1958 an und verließ es am 30. Juni 1965, zwei Tage nach seiner Wahl zum Bürgermeister der Stadt Schlüchtern.
Politiker und Vereinsmensch
Sein Parteibuch der SPD erhielt er 1955. Welche Erfahrungen und Überlegungen ihn letztlich bewogen haben, Sozialdemokrat zu werden, und wer ihn für die Partei geworben hat, wissen wir nicht. Doch wir können annehmen, dass auch die legendäre Persönlichkeit des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Dr. Georg-August Zinn eine starke Zugkraft auf ihn ausübte. Es dauerte noch kein Jahr, bis ihn sein Ortsverein in den Vorstand wählte, und jetzt folgten Jahr für Jahr weitere Ämter, Mandate und Funktionen in seiner Partei in Schlüchtern, im Kreis, im Unterbezirk und im Land. Es waren seine Schlüchterner Parteifreunde, die ihn als erste nur "de Dokter" nannten und ihn auch so mit dem vertrauten Genossen-Du anredeten. Vielleicht, weil er der erste promovierte Akademiker in den Reihen der lokalen, damals in den fünfziger Jahren noch traditionsgemäß aus dem Arbeitermilieu kommenden Sozialdemokraten war, vielleicht auch wegen des anfangs noch etwas ortsfremd anmutenden Familiennamens. Er selbst war keinesfalls kumpelhaft freigiebig mit dem Genossen-Du, sondern suchte immer die rechte Balance zwischen Nähe und Distanz. Er wurde zum "Motor und Steuermann der SPD im oberen Kinzigtal", lobte ihn der Chef der SPD im Main-Kinzig-Kreis und spätere Landrat Erich Pipa, als der Dokter seinen 80. Geburtstag feierte. Nie habe er parteipolitisch missioniert, sondern stets durch Argumente überzeugt. So habe er die Köpfe und die Herzen der Bürger erreicht und eine gute Politik gemacht.
Ebenso rasant wie sein Aufstieg in der Partei verlief seine kommunalpolitische Karriere: Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Kreistag, Kreistagsvorsitzender, Kreisbeigeordneter, und nach der Bildung des Main-Kinzig-Kreises im Jahr 1974 regierte er bis zur Wahl eines Landrats als Staatsbeauftragter den bevölkerungsstärksten hessischen Landkreis. Danach übte er im neuen Großkreis neben dem christdemokratischen Landrat Hans Rüger das Amt des Ersten Kreisbeigeordneten aus. Der "starke schwarze Hans", wie man den Kreischef und Vormann der Kreis-CDU damals titulierte, spricht noch heute dankbar und freudig über die gemeinsamen Jahre mit dem "roten Dokter" im Kreisausschuss. Des Dokters Stärke seien drei Kompetenzen gewesen, erinnert sich Hans Rüger: Sachverstand, Mutterwitz und Charme.
Doch auch des Dokters politischer Aufstieg verlief nicht immer so stromlinienförmig glatt. Da gab es schon manche Dellen, etwa 1964, als er in der Landratswahl in Schlüchtern seinem christdemokratischen Konkurrenten Dr. Wolfgang Seibert den Sieg überlassen musste. Nur - solche Niederlagen steckte er sportlich weg, doch unter Anfeindungen von Parteifreunden litt er.
Reinhold Anderlitschek war ein Vereinsmensch wie er im Buche steht. Irgendwann recherchierten die "Kinzigtal Nachrichten" und kamen auf 31 Mitgliedschaften. Es wertete natürlich das Renommee eines Vereins ungemein auf, wenn er sich mit dem Dokter als Gütesiegel nach außen präsentieren konnte. Mehrere verliehen ihm die Ehrenmitgliedschaft, so zum Beispiel auch die "Bergwinkel-Vagabunden", was ihn zur Führung des Namens "Ehrenvagabund" berechtigte.
Der Bürgermeister
Als Bürgermeister Friedrich Langerwisch am 7. Juni 1965 plötzlich starb, gab es für die Schlüchterner Sozialdemokraten keine Frage: Der Dokter muss sein Nachfolger werden. Er soll das erste gewählte SPD-Stadtoberhaupt in Schlüchtern nach dem Krieg werden und der erste SPD-Bürgermeister in einer der vier Städte des Kreises Schlüchtern. Das fand zunächst keine ungeteilte Zustimmung, denn CDU und FDP bestanden auf einer Ausschreibung. Aber in einer Umfrage der "Kinzigtai-Nachrichten" Mitte Juni sprach sich eine überwältigende Mehrheit für die Wahl eines "Einheimischen" aus. So wurde er am 28. Juni 1965 zum Bürgermeister gewählt. Seine Wiederwahl erfolgte am 25. Mai 1971, und zu einer dritten Amtszeit trat er am 25. April1977 an. Am 31. Oktober 1980, nach Vollendung seines 65. Lebensjahres und nach 15 Dienstjahren als Bürgermeister der Bergwinkelstadt verabschiedete er sich aus seinem Amt. Er hatte seinen sozialdemokratischen Markenkern immer behalten, aber sein Amt resolut unparteiisch ausgeübt. Einmütig beschlossen alle Fraktionen, ihm die Auszeichnung "Altbürgermeister" zu verleihen.
Eine Herkulesarbeit in seiner Amtszeit war die kommunale Neugliederung, die Zusammenlegung der Stadt Schlüchtern und der zwölf benachbarten selbstständigen Gemeinden. Die Zusammenlegung mit elf Stadtteilen konnte der Bürgermeister auf dem Verhandlungswege am 31. Dezember 1971 formell abschließen, dagegen gelang es ihm nicht, die Niederzeller zu einem freiwilligen Zusammenschluss zu bewegen. Aber insgesamt waren elf "freiwillige Entschließungen" ein Spitzenergebnis, das landesweit Beachtung fand. Er erreichte es durch penible Vorbereitung, durch Standfestigkeit in nächtelangen Verhandlungen, und vor allem durch seine Fairness und Glaubwürdigkeit. Natürlich vertraute er auch auf sein Erfolgsrezept "Charme schlägt Argumente". Aber wenn er damit nicht weiterkam, soll er auch zuweilen auf die "Überzeugungskraft des Schnapses" gebaut haben, wie man in einer der vielen Anekdoten erfährt, die über seine Schlitzohrigkeit kursieren. So zum Beispiel in Hohenzell, erzählt sein Nachnachfolger im Amt, Falko Fritzsch. Dort sollen sich die Verhandlungen über Gemeindebullen, Backhaus und Lehrerwohnung zäh dahingezogen haben. Doch der Dokter registrierte schnell, dass jede neue Runde die Stimmung steigerte und die Verhandlungspartner kompromissbereiter machte. Deshalb prostete er ihnen mit jedem neuen Glas fröhlich zu, trank aber nicht, sondern entsorgte den Schnaps im Blumenkübel daneben. So behielt der Dokter einen klaren Kopf und konnte spät in der Nacht eine weitere "freiwilligen Entschließung" mit nachhause nehmen.
Neben dem "Jahrhundertwerk der kommunalen Neugliederung" - so die "Kinzigtai-Nachrichten" - bewältigte Schlüchtern in der fünfzehnjährigen Amtszeit Reinhold Anderlitscheks drei weitere Großprojekte, die uns ahnen lassen, welchen Herausforderungen sich der Bürgermeister und der erste Hauptamtliche Stadtrat Hans Schott und mit ihnen die Beamten und Angestellten zu stellen hatten: Ende der 60er Jahre baute die Stadt den Feuerwehrstützpunkt am Untertor, zu Beginn der siebziger Jahre das Bergwinkel-Hallenbad in der Bahnhofsstraße, und 1975/76 errichtete sie das neue Rathaus. Es waren die Jahre, die das Gesicht, die Größe und die Bedeutung der Bergwinkelstadt in einem Ausmaß änderten, wie das in keiner anderen Epoche ihrer Geschichte geschehen ist. Im Gleichlauf mit dem Verlust der Kreisstadtfunktion und dem Abzug der Kreisverwaltung ließ die Zusammenlegung der zwölf Gemeinden mit der Stadt Schlüchtern die Einwohnerzahl von 6.000 auf 17.000 steigen, und durch die immensen Investitionen in die Infrastruktur bewahrten und förderten Bürgermeister, Stadträte und Stadtverordnete Schlüchterns Bedeutung als Mittelzentrum und seinen Ruf als lebens- und liebenswerte Stadt.
Trotz der Fülle und Neuartigkeit der Aufgaben, die in den fünfzehn Jahren geballt auf den Bürgermeister einstürmten, behielt er auch bei hoher Anspannung Fassung und begegnete den Mitarbeitern im Rathaus freundlich und verbindlich. Nein, das habe sie nie erlebt, sagt seine langjährige Verwaltungsangestellte llsemarie Ott, dass er, auch wenn es wieder mal knüppeldick kam, ausgerastet sei und die Kontrolle über sich verloren habe. Ein Menschenversteher sei er gewesen, ein väterlich für sorglicher Chef, der sein Geburtstagsbüchlein peinlich genau geführt und nie einen Geburtstag vergessen habe, der allen mit Wertschätzung und aufmunterndem Humor begegnet sei, und seine Personalentscheidungen habe man immer als nachvollziehbar und gerecht empfunden. Und der Verwaltungsbeamte Herbert Schwarz urteilt über seinen ehemaligen Chef: "Er hat seine Arbeit mit Freude gemacht; sie hat ihn ganz erfüllt".
Der Familienmensch
"Unser Vater hatte einen ausgeprägten Familiensinn, in guten und in schlechten Tagen. Wir liebten ihn und waren stolz auf ihn. Weihnachten war kein Fest für ihn. wenn er nicht den Christbaum selbst geschmückt und die ganze große Familie um sich herum versammelt hatte. Seinen sieben Enkeln war er ein geradezu leidenschaftlicher Opa", erzählen seine vier Töchter. "Dass er ein guter Bürgermeister und Politiker sein konnte, das verdankt er zu einem guten Teil unserer Mutter, denn sie hielt ihm immer den Rücken frei." 1940 hatte er in Leitmeritz seine Sophie geheiratet. Als die Töchter aus dem Haus waren und die Altersbeschwerden zunahmen, zog sich der Dokter mit seiner Frau in eine kleine Wohnung in der Lotichiusstraße 51 zurück, um, so begründete er's, nicht verbittert, sondern mit heiterer Gelassenheit, kürzere Wege zu den Ärzten und zur Apotheke zu haben. Zur Diamantenen Hochzeitüberraschten ihn Töchter, Schwiegersöhne und Enkel mit einem romantischen Geschenk: Sie ließen eine Hochzeitskutsche so herrichten wie jene, in der die Eltern damals in Leitmeritz bei ihrer weißen Hochzeit zum Traualtar gefahren waren, und der Dokter, der sein Leben lang spektakuläre Auftritte geringschätzte, genoss bei dieser Rundfahrt durch den Bergwinkel die staunenden Blicke der Menschen und winkte ihnen mit feiner Selbstironie landesväterlich zu.
Der engere Freundeskreis der Familie war recht überschaubar, denn der Dokter legte Wert darauf, die vielen "freundschaftlichen" und kollegialen Beziehungen seines öffentlichen Wirkungsfeldes aus seinem privaten Lebensbereich herauszuhalten. Nur persönliche Sympathie bestimmte seine wirklichen Freundschaften, u. a. zu Adolf Grammann, Wolfgang Modis, Rudolf Kunde, Walter Epperlein, Karl Heil, Manfred Michler und Ernst Jonas. Hier im engen Freundeskreis und in vertrauter Stammtischrunde im Cafe Egner nannte man ihn "Holdi", so wie ihn schon seine Mitschüler in Leitmeritz gerufen hatten.
Ruhestand und Ehrungen
Es war am 31. Oktober 1980, als Reinhold Anderlitschek wegen Erreichung des Pensionsalters das Amt des Schlüchterner Stadtoberhauptes abgab und die politische Verantwortung seinem Nachfolger Hans Schott überließ. An diesem Tag trat der Dokter zwar in den Ruhestand, aber er setzte sich nicht zur Ruhe. Manche Ehrenämter, die ihm aus seiner Funktion als Bürgermeister erwachsen waren, liefen aus, aber dass er seine Mitgliedschaft in all den vielen Vereinen bruchlos fortführte und ihre Arbeit bis zum Ende seines Lebens aktiv mitgestaltete, das war für ihn Ehrensache. Ja, er übernahm jetzt sogar eine neue verantwortungsreiche Aufgabe: 1985 wählte ihn der Kreistag des Main-Kinzig-Kreises mit allen Stimmen zum Bürgerbeauftragten (Bürgeranwalt). In dieser Rolle verstehe er sich, verriet er der "Frankfurter Rundschau", als moderner Robin Hood. Das politische Tagesgeschehen in Schlüchtern verfolgte er aus der Ruhestands-Distanz heraus sehr aufmerksam. und er sparte auch nicht mit Kritik an jenen, die jetzt das Sagen hatten, aber dies tat er immer nur im familiären Freundeskreis. Im Übrigen folgte er seinem Credo, dass sich der Pensionär aus der Politik seiner Nachfolger herauszuhalten habe, auch wenn er um Rat gefragt oder um eine öffentliche Stellungnahme gebeten werde.
Fragte man den Ruheständler, was er denn er in seiner "Freizeit" tue, die ihm die Arbeit in seinen Ehrenämtern noch lasse, sprach er zu allererst von der Freude, wenn er seinen Enkeln beim Rasenmähen und Heckenschneiden etwas zeigen und ihnen bei den Hausaufgaben helfen könne. Und oft sprach er davon, dass er die Unmengen seiner Akten, Dokumente und Materialien durchforsten und fürs Archiv aufbereiten wolle, ja, er denke auch daran, seine Lebensgeschichte zu Papier zu bringen.
Keinen anderen Bürger in der jüngeren Geschichte des Bergwinkels ehrte die Gesellschaft mit so vielen Auszeichnungen wie Reinhold Anderlitschek. Sie sind der Ausdruck für Größe und Gehalt des Lebenswerkes und den Charakter dieser Persönlichkeit. Als Beispiele dafür seien angeführt: Die Ehrenurkunde des Hessischen Städte- und Gemeindetags, die Ehrennadel des Landessportbundes in Gold, die Goldene Ehrennadel der Deutschen Olympische Gesellschaft, und schließlich verlieh ihm Bundespräsident Walter Scheel das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Doch mehr noch erfüllten ihn und seine Familie Freude und Stolz, als ihn die Schlüchterner am 30. Oktober 1980 mit einem Großen Zapfenstreich verabschiedeten und ihm die Stadtverordneten die Ehrenbezeichnung "Altbürgermeister" verliehen. Bei so viel Ehre hätte manch anderer die Bodenhaftung verloren. Er nicht. Einmal soll er eine Lobrede mit dem Spruch kommentiert haben, dass zu viel Weihrauch den Heiligen schwärzt. Oft sagte er, dass er auf ein erfülltes Leben zurückblicke und dass alles trotz Krieg, Gewalt und Vertreibung und persönlicher Schicksalsschläge eine glückliche Wendung genommen habe. Das empfinde er als Geschenk und Gnade. Ja, wahrscheinlich waren es die tiefen Erfahrungen menschlicher Armseligkeit, dass er zu menschlicher Größe gereift ist. Als der Dokter im Alter von 88 Jahren gestorben war, sprach Falko Fritzsch den Schlüchternern aus dem Herzen, als er ihn mit den Worten würdigte: "Was uns bleibt, ist die gute Erinnerung an eine große, verdienstvolle, beispielgebende Persönlichkeit."
Der Dokter war gerade dabei, in die kleine, seine letzte Wohnung umzuziehen, als ich ihn wieder einmal wie all die Jahre zuvor fragte, wie weit er mit der Aufarbeitung all seiner Unterlagen gekommen sei, so wie er's einmal geplant habe, und welchen Fortschritt die Arbeit an dem Erinnerungsbuch über seine vielen Leben mache. Er antwortete mir, dass er einen großen Container bestellt und alles entsorgt habe. Von einer erdrückenden Last habe er sich frei gemacht: "Es war so viel."
Auszug aus dem Bergwinkel-Boten Heimatkalender 2015, S. 129-137. Hrsg. vom Kreisausschuss des Main-Kinzig-Kreises mit freundlicher Genehmigung des Autoren Ernst Müller-Marschhausen.
(1917 – 1998)
Schlüchterns "Kulturpapst" in bewegter Zeit von Ernst Müller-Marschhausen
Vielseitigkeit, Qualitätsbewusstsein und Originalität
Als im Frühjahr 1945 in der Schlüchterner evangelischen Stadtkirche der Dankgottesdienst für das Ende des Krieges gefeiert wurde, spielte ein Druckermeister die Orgel, so wie er’s als ehrenamtlicher Organist von St. Michael seit Jahren tat: Ludwig Steinfeld.
Und als zwanzig Jahre später die ganz und gar weltliche Beatmusik die Nachkriegsjugend auch im Bergwinkel begeisterte, war es ausgerechnet der Leiter der Schlüchterner Kulturgesellschaft, der sich dem neuen Sound öffnete und mit der "Soul Caravan" eine der anspruchsvollsten deutschen Bands in unsere Stadt holte: Ludwig Steinfeld.
In dieser Spannweite deutet sich der charakteristische Wesenszug dieses Schlüchterner Bürgers an: Seine undogmatische Vielseitigkeit, die nur einen Maßstab kannte: Qualität. Gleichgültig, auf welchem Gebiet.
Die Musik war nur ein Segment in seinem breiten Spektrum an Antriebskräften, Interessen und Fähigkeiten:
Neben der Musik galt seine besondere Liebe der bildenden Kunst, deren Sammlung und Präsentation er leidenschaftlich und professionell betrieb.
Und schon früh weitete er das musische Wirkungsfeld in andere Richtungen aus: Geschichtsforschung kam hinzu. Seine Monographie über Ulrich von Hutten ist hier an erster Stelle zu nennen. Ein Standardwerk, auch in den Schulen der Region, ist sein Buch über "Die Chronik einer Straße" geworden, die Geschichte der 800 Jahre alten Reichsstraße von Frankfurt durchs Kinzigtal hinüber nach Leipzig.
Ganz auf sein engeres Lebensumfeld, vornehmlich auf das Schlüchterner Land, konzentrierte er sich dagegen, als er langsam verfallende Feldscheunen aufspürte, sie fotografierte und in seinem heimatgeschichtlichen Buch "Feldscheunen aus Hessen – von der Rhön zum Vogelsberg" für die Nachwelt bewahrte.
Die maßgebliche und richtungweisende Mitgestaltung des kulturellen literarischen Lebens in Schlüchtern kommt hinzu. Ein Jahr nach dem Kriegsende übernahm er die Geschäftsführung, kurz danach den Vorsitz der Kulturgesellschaft Schlüchtern, und als er sich 1978 aus der organisatorischen Arbeit der Gesellschaft zurückzog, führte er Teile ihrer inhaltlichen Arbeit fort. In eigener Verantwortung und allein auf sich gestellt und nach seinen ureigenen Vorstellungen in seiner Studien- und Begegnungsstätte "Haus Tusculum" in der ehemaligen Schule in Vollmerz-Hinkelhof. Kunst, Musik, Literatur und Geschichte blieben nicht die einzigen Domänen seines Wirkens. Sein Erkenntnis- und Gestaltungsdrang führte ihn auf das Gebiet der Psychologie und Psychotherapie. In einem Alter, in dem sich andere auf Rente und Ruhestand vorbereiten, qualifizierte er sich bei den besten Kennern und Therapeuten seiner Zeit, unter ihnen der Berliner Psychotherapeut und "Vater" des Autogenen Trainings Prof. Dr. Johannes Heinrich Schultz, zum Psychagogen, machte therapeutische Beratung und therapeutisches Training später zu seinem neuen Brotberuf. Sein praktisches berufliches Handeln reflektierte er in mehreren Fachbüchern, von denen die "Autogene Meditation" zum Verkaufsschlager wurde.
Stationen und Wegkreuze in seinem Leben
Ludwig Steinfelds Leben ist so weit gespannt, so bewegt, voller Gestaltungskraft und voller Streben nach lebenslangem Dazulernen, dass es die Grenzen sprengt, die ein normales Portrait in unserem Heimatkalender setzt. Seine Würdigung muss skizzenhaft bleiben, weshalb wir den Blick auf nur wenige biographische Stationen und Wegkreuze richten wollen. Wenn dabei immer wieder die Frage auftritt, wie es ihm hinsichtlich der Zeit- und Arbeitsplanung überhaupt gelingen konnte, dieses in Vielfalt und Umfang immense Arbeitspensum zu bewältigen, liegt die Antwort nah: Seine Frau Antje, Enkeltochter des im ganzen Bergwinkel hoch geachteten Sanitätsrats Dr. Ernst Stern, war mehr als der ruhende Pol in diesem bewegten Leben. Sie sicherte die häuslichen Angelegenheiten, wirkte ausgleichend und hielt viele leidige Alltagsgeschäfte von ihm fern. Aber noch wichtiger war, dass sie, künstlerisch ambitioniert wie ihr Mann, im "Hause Steinfeld" ein ästhetisches und intellektuelles Ambiente kultivierte, wie es früher in stilbildenden literarischen Salons geherrscht haben mag, ein Ambiente, das die Großen aus Kunst, Musik und Literatur im Anschluss an ihre Lesungen, Konzerte und Auftritte in unserer Stadt genossen haben. Das Gästebuch der Steinfelds gleicht deshalb einem "Who’s who" des kulturellen Lebens in Deutschland jener Jahrzehnte. Und darüber hinaus war Antje Steinfeld in vielen Fachfragen die kompetenteste Beraterin ihres Mannes und Koautorin manches seiner Bücher und Aufsätze.
Seine bürgerlichen Brotberufe
Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf Ludwig Steinfelds berufliche Tätigkeitsfelder, auf seine Brotberufe, in denen er vorrangig seinen Lebensunterhalt verdiente. Was uns da begegnet, ist eine ungewöhnliche Berufsbiographie. Ganz und gar nicht geradlinig verlief sie, nicht nach dem seinerzeit noch gewohnten Muster "vom Lehrling zum Unternehmer" im einmal gewählten Berufsfeld. Vielmehr war es der Wechsel, der sein Berufsleben kennzeichnet: Der Wechsel vom Handwerk ins Management eines Industrieunternehmens und von dort in die psychotherapeutische Beratung. Es waren selbstgetroffene Entscheidungen. Sie hatten ihre Ursachen im Streben nach persönlichem Wachstum, das dann nach adäquater Tätigkeit auch im Brotberuf suchte. Es trieb ihn ganz einfach, neue berufliche Erfahrungen zu machen, Neues zu lernen, sich zu erproben und zu entfalten.
Buchdrucker in Frankfurt am Main und Schlüchtern
Ludwig Steinfeld erreichte nach dem Besuch der Stadtschule und der Aufbau-schule in Schlüchtern und des Lyceums in Fulda den mittleren Bildungsabschluss, das „Einjährige“, wie es damals hieß, machte von 1933-1936 in einer Frankfurter Großdruckerei die Lehre zum Drucker , wurde Geselle und Meister, und weil der Vater 1937 starb, übernahm der gerade Zwanzigjährige als Mitinhaber und Chef die elterliche Firma, die „Druckerei Steinfeld“, in Schlüchtern, in der Bahnhofstraße 6. Der Betrieb wurde 1943 kriegsbedingt eingestellt. Bis dahin druckte er unter anderem auch die damalige amtliche, dreimal wöchentlich erscheinende „Schlüchterner Zeitung“. Ludwig Steinfeld war von 1943 bis 1945 Soldat. Ein Jahr nach dem Kriegsende nahmen er und sein Onkel Fritz Steinfeld den Betrieb wieder auf. Das 1913 gegründete Traditionsunternehmen wurde 1975 an Gert Geisel und wiederum vierzehn Jahre später an Norbert Griebel verkauft.
Kaufmännischer Leiter in Steinau
1958 wechselte Ludwig Steinfeld seinen erlernten Beruf: Er übernahm die Funktion des kaufmännischen Leiters einer Abteilung in der „Dreiturm“ in Steinau, einem Chemieunternehmen mit dem Schwerpunkt auf der Kosmetikproduktion, das der befreundeten Familie Gerhard Wolf gehörte und seinerzeit mit fast 700 Mitarbeitern größter Arbeitgeber in der Brüder-Grimm-Stadt war. Anfang der siebziger Jahre hat Gerhard Wolf einen Teil des Familienunternehmens verkauft. Dem Umbau der Firma fiel die Hälfte der Arbeitsplätze zum Opfer, und ausgetauscht wurde auch das Management, einschließlich der Position des kaufmännischen Leiters,in der Ludwig Steinfeld zuletzt tätig war.
Psychagoge in Bad Orb
Getrieben vom Verlangen nach Selbstbesinnung und Erweiterung seiner eigenen Erlebnis- und Erfahrungswelt, reifte in Ludwig Steinfeld schon Mitte der sechziger Jahre der Wunsch, sich in die Psychologie und die Psychotherapie einzuarbeiten. Wie alles, was er begann, tat er auch dies mit System und Ausdauer und qualitäts-bewusst, getreu seinem Grundsatz, dass man „nur von den Besten lernen“ könne. Der schon Fünfzigjährige betrieb seine Studien in Seminaren und Symposien bei namhaften Psychotherapeuten und erwarb die formale Qualifikation für den Beruf des Psychagogen, eines tiefenpsychologisch ausgebildeten Therapeuten. Diesen Beruf, seinen dritten bürgerlichen Brotberuf, übte er von 1972 an bis zu seiner Versetzung in den Altersruhestand 1985 im Spessart-Sanatorium in Bad Orb aus.
Sein zweites Leben: Sammler, "Jäger" und Autor
Neben seinem bürgerlichen Berufsleben führte Ludwig Steinfeld ein zweites Leben: Ein Leben als Sammler, ja, als "Jäger", wie er sich selbst einmal charakterisierte, sowie als Buch-Autor und Publizist. Für den Ankauf schöner Stücke musste er manchmal ein Darlehen aufnehmen. Ein Leben in einem Kulturkosmos neben seiner beruflichen Alltagswelt! Vornehmlich in drei Revieren sammelte und "jagte" er:
Die Töpferkunst hatte es ihm schon in jungen Jahren angetan. Irdenes und Steinzeug aus Rhön, Vogelsberg und Spessart, speziell aus dem Töpferdorf Marjoß, trug er in Jahrzehnten zusammen, an die tausend Artefakte. Anregungen hatte ihm der Heimatforscher Wilhelm Praesent gegeben. Er behielt seine einmalige Sammlung hessisch-bäuerlicher Kultur nicht für sich, sondern vermachte sie komplett dem Hessischen Landesmuseum in Kassel, das sie 1975 in einer großen Ausstellung präsentierte und den Mäzen im prächtigen Katalog ehrte.
Mit demselben Jagdfieber spürte er Erstausgaben der Märchen der Brüder Grimm auf, und mit Beharrlichkeit verfolgte er Spuren zu bibliophilen Raritäten aus der Feder Ulrichs von Hutten und aus der Literatur über den bedeutendsten Dichter unserer Heimat. Seine Sammlung der Grimm’schen Erstausgaben sowie der Originale europäischer und asiatischer Märchen, deren Motive die Brüder Grimm übernommen haben, wurde 1985 im Fuldaer Stadtschloss ausgestellt. Und 1988, zum 500. Geburtstag des Reichsritters Ulrich von Hutten, war er Mit-Initiator einer repräsentativen, national bedeutenden Hutten-Ausstellung in Schlüchtern.
Als Kunstsammler galt Ludwig Steinfeld deutschlandweit als Kenner und Experte. Herzstück seiner Sammlung waren Werke des Bauhaus-Meisters und Malers Professor Georg Muche, Sohn des Rentmeisters und Sonntags-Malers Felix Ramholz (Felix Muche). Er kaufte sie seit 1951, als sie noch erschwinglich waren, von Kunsthändlern und von Georg Muche selbst, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Bald hatte er eine kleine Sammlung. Bald hatte die Sammlung ihn. Georg Muches Oeuvre lässt sich keiner vorherrschenden Stilrichtung im 20. Jahrhundert eindeutig zuordnen. Er gilt als einer der profiliertesten deutschen Abstrakten. Seine Bilder reisten als Exponate mit der Bauhaus-Ausstellung um die ganze Welt. In London, Paris, Tokio, Chikago und anderen Metropolen hingen die "Leihgaben des Sammlers Ludwig Steinfeld, Schlüchtern". Mit den Repräsentanten des Ausstellungsgeschäfts verhandelte der Sammler und Kunstexperte aus Schlüchtern in Augenhöhe, unter ihnen mit Größen des internationalen Kunstmarkts wie Lothar-Günther Buchheim und Heinz Berggruen.
Breite und Vielfalt weist auch das Werk des Autors und Publizisten Ludwig Steinfeld auf. Nicht weniger als vierzehn Bücher hat er verfasst oder als reich kommentierte Bildbände herausgegeben. Die meisten stellen heimat- und regionalgeschichtliche Themen dar. Andere befassen sich mit Kulturphilosophie, mit Psychologie und praktischer Lebensberatung, manche inspiriert von fernöstlicher Philosophie und eigenen Erfahrungen auf Ostasien-Reisen. Der biographische Bildband über Felix Ramholz illustriert Leben und Werk eines der bedeutendsten "naiven" Maler Deutschlands.
Viele seiner Mitbürger haben ihn als Autor von acht Aufsätzen im "Bergwinkel-Heimatkalender" kennen gelernt, sie erschienen in den Jahren zwischen 1981 und 1998.
Seine Bücher und seine Aufsätze im "Bergwinkel-Heimatkalender" werden im Anhang vollständig aufgelistet, außerdem sein Aufsatz über die Kulturgesellschaft. Vor allem seine heimat- und regional-geschichtlichen Bücher und mehr noch seine Aufsätze im Heimatkalender sind es, mit denen sich Ludwig Steinfeld bleibende Verdienste um die Erforschung und Dokumentation der Geschichte seiner Stadt und seiner Bergwinkel-Heimat erworben hat.
Die Aufsätze, die Ludwig Steinfeld in Zeitungen und in anderen Zeitschriften veröffentlicht hat, wie z.B. in den "Kinzigtal-Nachrichten", der "Frankfurter Rundschau" und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sowie in Fachzeitschriften, sind so zahlreich und in ihrer Themenpalette so bunt, dass sie nur in einem gesonderten Projekt erfasst und dokumentiert werden können.
Sein Wirkungsfeld "Ehrenamt": Kulturgesellschaft Schlüchtern e.V.
Nicht Ludwig Steinfelds einzigartige Berufsbiographie ist es, auch nicht seinautodidaktisch erworbenes Expertentum als Kunstsammler oder als fachwissenschaftlicher Autor und Publizist, sondern es ist – neben seinen heimat- und regionalgeschichtlichen Arbeiten - sein öffentliches ehrenamtliches Wirken in seiner Stadt und für seine Stadt, das im kollektiven Gedächtnis präsent geblieben ist und das, wenn auch erst nach seinem Tod,seine verdiente Anerkennung erfährt.
Den Auftakt des neu entstandenen kulturellen Lebens in Schlüchtern wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildete ein viel beachtetes Musikereignis. Ludwig Steinfeld war es im September 1945 gelungen, Frankfurter Musiker, die gerade dabei waren, sich wieder zu einem Orchester zusammenzufinden, für ein Konzert in unserer Stadt zu engagieren. Er knüpfte Kontakte zu Kunst- und Literaturinteressierten in Schlüchtern und entwickelte so ein Netzwerk, aus dem ein Jahr später die Kulturgesellschaft hervorging. Vorrangig waren es ausgebombte "Städter", die in den letzten Kriegsjahren in den Bergwinkel evakuiert worden waren oder die Hunger und Obdachlosigkeit hierher getrieben hatten, unter ihnen sein Schwager Dr. Otto Vitense aus Berlin, von der Besatzungsarmee als Bürgermeister Schlüchterns eingesetzt und schon nach drei Monaten wieder davon gejagt, und unter ihnen waren Flüchtlinge und Vertriebene aus Ostpreußen und Schlesien und auch schon aus dem Sudetenland. Sie alle, die "zugezogenen" Neu-Schlüchterner, haben bald darauf neben den revitalisierten Vereinen der Bergwinkelstadt für Jahrzehnte die Inhalte, die Formen und das Niveau deskulturellen Lebens der Stadt tonangebend und richtungweisend mitgeprägt
So wurde Ludwig Steinfeldeiner der maßgeblichen Initiatoren der Kulturgesellschaft.Sie wurde an Goethes Geburtstag, dem 28. August 1946 gegründet. Den Vorstandsvorsitz übernahm zunächst Landrat Walter Jansen, unterstützt von Persönlichkeiten wie dem Lehrer und Heimatforscher Wilhelm Praesent und der Musikpädagogin Margarete Löw. Ludwig Steinfeld, von der Mitgliederversammlung auf Empfehlung von Landrat Walter Jansen mit überwältigender Mehrheit gewählt,organisierte ihr Programmvon 1947 bis 1964als ihr Geschäftsführer,und von da an bis 1973 gestaltete er es als ihr Vorsitzender. Seine Nachfolge trat Pfarrer Karlheinz Happich an, ihm folgte 1977 Christiane Blume, und von 1994 bis zur Auflösung im Jahr 1998 leitete Ina Hildebrandt die Kulturgesellschaft. Viele Gründe machten ihre Auflösung unabwendbar: die Überalterung, der Mitgliederschwund und die ins Gigantische wachsenden medialen Angebote, aber auch die Einstellung der Zuwendungen aus der Zonenrandförderung. Der geschrumpfte Mitgliederbestand fand dann ein neues geistiges Zuhause im "Freundeskreis Sankt Michael".
Die Ära Ludwig Steinfeld währte ein Vierteljahrhundert. Ina Hildebrandt würdigt sie als das "Goldene Zeitalter der Schlüchterner Kulturgesellschaft". Ludwig Steinfeld selbst spricht später einmal davon, es habe im 20. Jahrhundert "zwei Epochen der Hochkultur" in unserer Stadt gegeben: Die Neuwerkbewegung nach dem Ersten Weltkrieg und das Wirken der Kulturgesellschaft in den drei Jahrzehnten nach 1945. Treibende Kräfte für den Aufschwung und die Blüte der Kulturgesellschaft waren das Verlangen der geistig ausgehungerten Menschen nach Kultur und ihr Wunsch nach "seelischer Verjüngung" und eigentätiger Mitgestaltung des "geistigen Neuaufbaus Deutschlands", wie es in der Präambel zur Gründungsurkunde heißt. Auch gesellschaftspolitische Motive haben dem kulturellen Neubeginn Dynamik verliehen; "Kunst soll künftig allen sozialen Schichten zugänglich gemacht" werden, proklamiertendie Gründungsväter der Kulturgesellschaft. Aber mindestens ebenso ausschlaggebend für die Erfolgsgeschichte der Kulturgesellschaft war es, dass zur rechten Zeit eine Persönlichkeit wie Ludwig Steinfeld zur Stelle war, die willensstark und beharrlich ihre inhaltlichen Ziele für Jahrzehnte ganz nach seinen eigenen hohen Ansprüchen an künstlerische Qualität ausrichtete.
Ludwig Steinfeld holte Schriftsteller von Rang und Namen zu Lesungen nach Schlüchtern. Wie er, der Autodidakt, das schaffte, fragen sich viele. Nun, zum einen war er belesen wie kaum ein anderer, ein Büchernarr als Leser wie auch als Sammler; die größte Privatbibliothek im weiten Umkreis habe er besessen. Er kannte sich in der Literaturszene bestens aus, was ein unverzichtbares Muss war, um überhaupt direkte persönliche Kontakte zu den ganz Großen im Literaturbetrieb knüpfen und auf Augenhöhe mit ihnen verhandeln zu können, unter ihnen Peter Weiss, Stefan Andres, Marie Luise Kaschnitz, Heinz Henny Jahnn, Wolf Wondrascheck, Manfred Hausmann – viele zählen wir heute zu den Klassikern der neueren deutschsprachigen Literatur. Warum sie alle gerne der Einladung der Kulturgesellschaft folgten und sich und ihre Werke in der Kloster-Aula, dem traditionellen Veranstaltungsraum der Kulturgesellschaft, vorstellten, hat auch etwas damit zu tun, dass sich das kultivierte Ambiente im Hause Steinfeld und seine Gastfreundschaft in Künstler-Kreisen herumgesprochen hatten.
Ludwig Steinfeld brachte in dem Vierteljahrhundert seines ehrenamtlichen Wirkens musikalische Programme vom Feinsten zustande. Große Namen hatten die Ensembles. Viele sind bis heute in guter Erinnerung geblieben: So das Münchner und das Südwestdeutsche Kammerorchester, das Köckert-Quartett, das Stroß-Quartett, das Ebert-Trio aus Wien, das Detmolder Collegium Musicum, die Namen der Pianisten wie Amadeus Webersinke, Elly Ney und Michael Ponto. Warum Musiker dieser Klasse so gerne nach Schlüchtern kamen, hatte noch einen ganz praktischen Grund: Die Klosteraula hatte seinerzeit den Ruf, einer der akustisch besten Kammermusiksäle in Deutschland zu sein. Neben den renommierten Interpreten der klassischen Musik gastierten international ausgewiesene Jazz-Ensembles zweimal in unserer Stadt. Musik spielte auch unter den Nachfolgern Ludwig Steinfels eine herausragende Rolle in den Programmen der Kulturgesellschaft. Vielleicht mit eine Ursache dafür, mutmaßt Christiane Blume, dass aus einer so kleinen Stadt wie Schlüchtern im Laufe der Zeit so viele gute Musiker hervorgegangen sind.
Unter Steinfelds Ägide erlebte Schlüchtern Theateraufführungen zeitgenössischer Dramatiker wie Bert Brecht, Eugene Ionesco und Samuel Beckett, Kabarette wie "Die Zeitberichter", den Kabarettisten Werner Finck, und die Schlüchterner lernten in dem von der Kulturgesellschaft gegründeten Filmclub die vielfach ausgezeichneten italienischen und französischen Filme kennen, darunter die Streifen"La Strada", "Kinder des Olymps" und "Der Reigen", heute gelten sie als Klassiker der europäischen Filmgeschichte.
Als Geschäftsführer und als Vorsitzender der Kulturgesellschaft hat Ludwig Steinfeld in Schlüchtern auf den Gebieten der Literatur, der Musik, der Malerei, des Theaters und der Filmkunst – nimmt man alles in allem – über 250 Veranstaltungen organisiert, die nach einmütiger Einschätzung all jener, die an dem kulturellen Leben jener Jahre teilhatten, den Vergleich mit großstädtischen Angeboten mühelos standhalten. Ausgewählt wurden die Angebote im allgemeinen von ihm allein. Dabei ließ er sich nur leiten von dem Kriterium "künstlerische Qualität".
Mitstreiter und Weggefährten
Ludwig Steinfelds Kulturgesellschaft gab nach Umfang, Inhalt und Qualität ihrer Angebote die Richtung für das kulturelle Leben unserer Stadt vor. Ihre Bedeutung wuchs noch, als sie im Februar 1948 eine "Filiale" einrichtete, die Schlüchterner Volkshochschule, deren Leitung in enger Programmabstimmung mit ihm seine Mitstreiter und Weggefährten Frau Christiane von der Heyde und Studienrat Dr. Günther Seiler übernahmen. Mit Fug und Recht lässt sich aus der Perspektive von heute sagen, dass die Kulturgesellschaft unter Ludwig Steinfeld die "Leitkultur" der Stadt geprägt hat. Doch verfehlt wäre es, ihr eine Monopolstellung zuzuschreiben.
Es gab vielfältige kulturelle Aktivitäten unserer traditionsreichen Vereine, und es gab in der Stadtschule den Lehrer Wilhelm Praesent, den die Stadt wegen seiner bleibenden Verdienste um die Erforschung der Geschichte seiner Heimat mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft ehrte. Es gab vor allem das kulturelle Epizentrum Ulrich von Hutten-Schule. Sie trat bald nach 1945 mit Aufführungen großer Musikwerke in die Öffentlichkeit, einstudiert, inszeniert und dirigiert von der begeisterten und ganze Schülergenerationen mitreißenden Musikpädagogin Margarete Löw, und ebenso beharrlich wie resolut wirkte ihr Kollege Fritz Ramge, Kunsterzieher und selbst produktiver Maler und Zeichner, stil- und geschmacksbildend weit ins schulische Umfeld hinein. Daneben entwickelten sich in dieser Epoche des Aufbruchs und Neubeginns in unserer Stadt spontan und oft ganz aus privater Initiative eine Reihe mehrerer kultureller "Kleinzentren", die teils mit Ludwig Steinfeld kooperierten und seine Arbeit ergänzten, teils im Wettbewerb mit der Kulturgesellschaft eigene Wege gingen. Ein auf Dauer angelegtes institutionalisiertes Netzwerk der Kulturschaffenden und Kulturmanager in unserer Stadt entstand nicht. Eher kann man von einem erfolgreichen "getrennten Zusammenwirken" sprechen.
Annemarie Blankenburg lud zu ihrem Literaturzirkel in ihre Wohnung im Kloster ein. Isa von Brandenstein hieß in ihrer Burg Künstler und Kunstinteressierte willkommen, die evangelische Kirchenmusikschule gewann mit ihren Konzerten Beachtung über die Region hinaus, im "Interkonfessionellen Arbeitskreis", vom evangelischen Pfarrer Freiherr von Dryander (Sohn des letzten kaiserlichen Hofpredigers) ins Leben gerufen, fanden sich Alt-Schlüchterner und – zumeist katholische – Neubürger zusammen, die "Europäische Akademie" mit ihren Akademiesekretären Graf Max Trauttmannsdorf und Manfred Michler in ihrer Geschäftsstelle im Schlösschen bot ein Forum für den Austausch seinerzeit noch phantastisch anmutender Vorstellungen über die – heute großenteils Realität gewordene – Integration unseres Kontinents, und in den stark frequentierten Veranstaltungen der "Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Leben", geleitet von der rührigen Geschäftsführerin Gerda Kaufmann, machte man sich in hochkarätigen Seminaren mit politischen und kulturellen Wesensmerkmalen in einer demokratischen Gesellschaft vertraut.
Prägungen in Kindheit und Jugend
Auf welche frühen Erfahrungen und Impulse geht Ludwig Steinfelds zweites Leben als Kunst-Sammler, Literat und Kulturmanager zurück? Tasten wir uns zurück in seiner Biographie bis hin in seine frühe Kindheit in der Bahnhofstraße 6, wo er am 4. Januar 1917 als Sohn des Buchdruckers Albert Steinfeld geboren wurde. Er selbst erklärt als Mittfünfziger in seinen fragmentarisch gebliebenen skizzenhaften Selbstportraits seine Leidenschaft für Literatur und Geschichte, für Kunst und Musik aus einer frühkindlichen Prägung. Seine Eltern hätten seine intellektuellen Fähigkeiten und musischen Interessen verständnisvoll gefördert. Mehr noch als im Elternhaus habe ihn die kunstsinnige Atmosphäre in der Villa des Dreiturm-Besitzers Max Wolf , heute "Am Wäldchen" 6, geformt, das Haus der Eltern seines Freundes Gerhard Wolf. Die beiden blieben Freunde ihr Leben lang. In der Villa der jüdischen Familie Wolf habe er als Junge eine tiefe Beziehung zu den Bildern der deutschen Moderne entwickelt, zum Beispiel zu Werken von Max Liebermann, Oskar Kokoschka, Schmitt-Rottluff, Emil Nolde, Otto Müller und Paula Modersohn-Becker.
Später, als sich seine Klasse bei einem Schüleraustausch in Paris aufhielt, bewunderte der Vierzehnjährige die Schätze des Louvre, als Buchdruckerlehrling in Frankfurt am Main hatte er ein Abonnement im Städelschen Kunstinstitut, wo ihn seine "Lieblingsbilder" aus der Frührenaissance "unauslöschbar beeindruckten". Er reiste zu Gemäldeausstellungen nach Berlin. 1937 kam die berühmt-berüchtigte Ausstellung "Entartete Kunst" auch nach Frankfurt am Main. Dort traf er auf verfemte Werke, die er wenige Jahre zuvor im Hause Wolf kennen gelernt und lieb gewonnen hatte..
Was ihn formte und sein Expertentum ausmachte, war nicht das Ergebnis eines systematisch betriebenen akademischen Studiums, sondern ein absolut intuitives Gespür für künstlerische Qualität. Es speiste sich aus unterschiedlich zustande gekommenen Eindrücken und mannigfaltigen Erfahrungen, die er jedoch schon als Schüler und Lehrling nach Inhalt und Struktur in einem selbst entwickelten Koordinatensystem ordnete, das zeitlebens den Richtsteig für sein Urteilen über Kunst darstellte. Ludwig Steinfeld äußert bei gelegentlichen behutsamen biographischen Öffnungen mit dem Stolz des erfolgreichenAutodidakten, dass er ein "Seiteneinsteiger" sei, dass er es für sein "Glück " halte, "nie einen Kunstunterricht genossen" oder ein Studium mit formaler Qualifikation absolviert zu haben, sondern aus eigener Kraft das geschafft habe, was denen mit dem goldenen Löffel im Mund eher zugeflogen ist.
Der Prophet im eigenen Lande
Die politisch Verantwortlichen Schlüchterns hielten merklich Abstand zur Kulturszene ihrer Stadt, vornehmlich zu Ludwig Steinfeld. Zunächst durchaus nachvollziehbar, denn in den ersten Nachkriegsjahren hatte die Kommunalpolitik in Schlüchtern wie auch überall sonst in Deutschland ganz andere Probleme, deren Lösung Vorrang beanspruchte. Aber es gab auch weiter verbreitete und tiefer liegende Ressentiments gegenüber der "Kultur", vornehmlich gegenüber der Kultur, die Ludwig Steinfelds Stempel trug, und wie sie von der Kulturgesellschaft und den Zirkeln in ihrem Umfeld gepflegt wurde. Macher und Pragmatiker, die innerhalb ihrer eigenen städtischen Horizonte kreisten, fühlten sich gelegentlich provoziert von dem Unzeitgemäßen dieses Kulturbetriebs. Bei vielen gab es auch den stets latenten Argwohn, dass diese Kultur ja doch nur etwas für "Bessere" sei, und in dieser Einschätzung bestätigte man sich fortlaufend selbst. Und andere wieder, obwohl formal akademisch qualifiziert und sich als Repräsentanten des Bildungsbürgertums gerierend, haben nicht immer die Größe aufgebracht, die notwendig gewesen wäre, um ihre Ressentiments gegenüber dem Autodidakten zu überwinden und in einen für alle förderlichen Dialog einzutreten. So nannten ihn die einen wie die anderen mit etwas ironischem Unterton den "Schlüchterner Kulturpapst" , und unterschieden sich nur in den Motiven ihrer Ressentiments.
Ludwig Steinfeld hätte gerne einen Teil seiner Sammlungen auf Dauer in seiner Heimatstadt gesehen. So hatte er z. B. das Bild "Das Frühstück" von Felix Ramholz dem Heimatmuseum als Leihgabe und zum späteren Vermächtnis angeboten und dort bereits auch aufgehängt, aber man sagte, es passe nicht zum Museumskonzept, und im übrigen herrsche auch Platzmangel, und so nahm er es denn enttäuscht wieder mit nach Hause. Jahre später hat es die Stadt von seiner Witwe für die Neugestaltung des Heimatmuseums gekauft. Weitere verpasste Chancen dieser und ähnlicher Art hatten zur Folge, dass nicht nur manch heimatbezogener Schatz aus der Steinfeld’schen Sammlung für unsere Stadt verloren ging, sondern auch sein Potenzial als weit über die Region hinaus geachteter Kunstexperte und erfolgreicher Kulturmanager für die Stärkung ihres Selbstverständnisses als Schul- und Kulturstadt wie auch für ihre künftige wirksame Außendarstellung nicht genutzt wurde.
Es überrascht auch nicht, dass die Stadt Ludwig Steinfelds außergewöhnliche Leistungen zu seinen Lebzeiten nie durch eine noch so kleine Auszeichnung gewürdigt hat, obwohl er ihr doch in seinen Heimatbüchern seine Liebe zu ihr und zum Bergwinkel in Wort und Bild so freimütig gestanden hat. Nicht seine Stadt, sondern der Main-Kinzig-Kreis war es, der ihn ehrte und ihm 1985 den "Kulturpreis" für seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Heimatforschung verlieh. Und hohe Anerkennung zollte ihm im selben Jahr die "Frankfurter Rundschau" in dem biographischen Portrait "Ein Leben lang auf der Suche" aus der Feder der Redakteurin Ilse Werder.
Ressentiments zu überwinden und in einen für beide Seiten ergiebigen Dialog einzutreten – das glückte weder die Stadt, noch gelang es Ludwig Steinfeld.
Er stand sich oft selbst im Wege. Er sagt selbst von sich, dass er den kommunal-politischen Entscheidern gegenüber "vielleicht nicht immer diplomatisch genug" aufgetreten sei. Als "Querdenker, der Widerspruch provoziert und in keine Schublade passt", charakterisiert er sich. Dass dieses Denken und Handeln Spannungsfelder aufbaut, wusste er, ja es scheint, als habe er sich darauf einiges zugute gehalten. Seine Frau Antje hat ihn zumeist als "Einzelkämpfer" erlebt, andere Weggefährten erinnern sich an ihn als "Energiebündel", gelegentlich mit aufreizender Sprödigkeit, die manche als Schroffheit empfinden konnten, stets darauf aus, auf eigenen Wegen sein Erfahrungs- und Entfaltungsrevier zu erweitern und Neuem nachzujagen.
Manche seiner Mitstreiter und Weggefährten erinnern sich an ihn als einen ungewöhnlich kenntnisreichen, gebildeten, grundsatztreuen Menschen, kein Wortgewaltiger sei er gewesen, sondern differenziert und kontrolliert, eher verhalten und dezent habe er argumentiert, manchmal mit einem Anflug gescheiten Humors. Aber immer authentisch und geradeaus. Entschiedenheit von sich selbst habe er gefordert und mit nüchternem Blick und mit einer Art glühender Sachlichkeit habe er verfolgt, was er für gut und richtig und erstrebenswert empfand.
Es waren aber auch gerade dieselben Verhaltensweisen und Eigenschaften, die es ihm schwer machten, die Distanz zu anderen zu verringern. Andererseits: Als angepasstem Leisetreter wären dem Autodidakten wohl kaum seine großen Erfolge im Kulturbetrieb seiner Heimat und in Fachkreisen Deutschlands beschieden gewesen. Dabei spielte er die Aura außerordentlichen Wissens und Könnens und höchster fachlicher Kompetenz, die ihn umgab, nie selbstgefällig aus – man spürte sie einfach, wenn man mit ihm sprach.
Eine glänzende Würdigung erfährt Ludwig Steinfeld, sein Lebenswerk und seine Persönlichkeit, in der Laudatio anlässlich seiner Auszeichnung als Kulturpreisträger des Main-Kinzig-Kreises 1985 und in dem sehr persönlich gehaltenen Aufsatz von Stefan Etzel: "Ludwig Steinfeld – Ein Urgestein im Schlüchterner Kulturleben" (2001); online: www.stefan-etzel.de. Und 2007, acht Jahre nach seinem Tod, ehrt ihn auch seine Heimatstadt, zum erstenmal: Im neu eröffneten Heimatmuseum im Schlösschen reiht sie Ludwig Steinfeld in die Galerie der Persönlichkeiten ein, die sich um ihre Stadt in besonderem Maße verdient gemacht haben.
Steinfeld Veröffentlichungen
Ludwig Steinfeld: Bücher
Ludwig Steinfeld: Aufsätze
"Bergwinkel-Bote. Heimatkalender" - Hrsg. vom Kreisausschuss des Main-Kinzig-Kreises
"Unsere Heimat – Mitteilungen des Heimat- und Geschichtsvereins Bergwinkel e.V. Schlüchtern" Bd. 12 (1996):
Bemerkung des Autors:
Für die umfassende Hilfe bei der inhaltlichen Gestaltung des Beitrags danke ich Herrn Dr. Stefan Etzel, für die laufende Beratung und Bereitstellung biographischer Materialien Frau Antje Steinfeld und Frau Ina Hildebrand, für die redaktionelle Beratung Herrn Dr. Otto Rabenstein.
Auszug aus dem Bergwinkel-Boten Heimatkalender 2008, 59. Jahrgang. Hrsg. vom Kreisausschuss des Main-Kinzig-Kreises mit freundlicher Genehmigung des Autors Ernst Müller-Marschhausen.
Einen Schlüchterner, wie man von einem "Fulder", "Gelnhäuser" oder "Hanauer" sprach, ausgeprägt, sich abhebend von anderer Landesart, gab es nie. Es soll hier in der Folge nicht die Rede sein von "typischen" Schlüchternern, sondern gerade von einer Auslese nicht landläufiger Gestalten. Es sind die besonderen Menschen gemeint, die für die Stadt, ihr Ansehen, ihren Ruf etwas bedeuteten oder noch bedeuten, einerlei ob sie hier geboren sind oder nicht, einen fruchtbaren Lebensabschnitt oder nur ihren Lebensabend hier verbrachten, ja, ob sie in der Fremde wirkten oder lediglich für die kulturelle oder materielle Entwicklung ihrer Heimat förderlich tätig waren. Ein Überblick demnach über die Schlüchterner, die - wie man sagt - sich "einen Namen gemacht haben" (es sind sogar zwei, drei "berühmte" darunter), und dieser Überblick und Rückblick gehört dazu, wenn man seinen Wohnboden geistig "zu bewältigen" willens ist.
Die übrigen gebürtigen oder gewordenen Schlüchterner, die in diese Sammlung gehören, wie Prokurator Carl, Philipp Lotz, Landrat Valentiner, Oberschulrat Schwarzhaupt, Chefredakteur W. Rullmann, Med. Rat Dr. P. Cauer, Pfarrer E. Freund, Superintendent Orth, der Maler Professor K. Leipold, Professor Fr. Blume, Professor E. Hadermann, die Gymnasialdirektoren Reuß, Hafner, Monzel, Steinmeyer, Fenner, Pfalzgraf, Frau Direktorin M. Adam sind an anderer Stelle schon gewürdigt worden und bleiben unvergessen.
W. Praesent
Text und Bilder aus dem Buch von Wilhelm Praesent "Schlüchterner Gestalten"