Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Grundstein zu einem großzügigen Synagogenneubau gelegt. Diese Synagoge ist für viele Juden, insbesondere auch Nichtjuden, wegen ihrer Dimension und des ungewöhnlich repräsentativen Aussehens zum Sinnbild für eine wahrhaft eindrucksvolle Synagoge geworden. Allerdings hat das Gebäude durch seine ausufernden neoromanischen Formen mit den organisch entstandenen und überaus zweckgebundenen Landsynagogen kaum noch etwas gemeinsam.
Die hier ausgedrückte Wichtigkeit verleiht dem Synagogenbau, der bislang ausschließlich mit religiösen Inhalten verknüpft wurde, gleichsam eine neue politische und gesellschaftliche Bedeutung, indem sie die Gleichberechtigung des Judentums weithin sichtbar symbolisiert.
Die Vorgängerin dieser Synagoge lag dicht an der Stadtgrenze, ein Fachwerkbau im Hof mit Hallengeschoss und sechs großen Rundbogenfenstern. Sie war 1670 erbaut und 1837 mit einer Frauenempore ausgestattet worden. Obwohl diese kleine Landsynagoge noch in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bestand, wurde sie 1978 abgerissen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie von der Gemeinde wohl als zu eng empfunden, so dass 1896 der Synagogenneubau begann: der alte Stadtgraben wurde zugeschüttet und an dem markanten Standort das freistehende Eckgebäude aufgebaut. Das eingeschossige massive Zentralgebäude, größtenteils aus rotem Sandstein errichtet, ist ein symmetrischer Bau, dessen Fassaden sich in allen Himmelsrichtungen gleichen. Der annähernd kreuzförmige Grundriss und die Schildgiebel begünstigen diesen Eindruck.
Wir sehen den Formen- und Schmuckkanon des romanischen Baustils: die Schildgiebel haben einen Rundbogenfries, in dessen Mitte eine Kleeblattöffnung sitzt. Den Blickfang bildet das eindrucksvolle Radfenster, das von einem profilierten Rundbogen gerahmt wird. Die Zwerchgalerie steht auf dem umlaufenden Gurtgesims. An vier Schnittpunkten der Grundrissfläche sitzen Türme. Sie sind unterschiedlich hoch und haben eine unterschiedliche Form: rechteckig, polygonal und rund.
Die stolze Synagoge bestand nur 40 Jahre; in der Pogromnacht wurde das Innere zerstört. Von 1939 bis 1945 diente das Gebäude als Lagerhalle, wurde dann aber auf Befehl der amerikanischen Militärregierung wiederhergestellt. Bis 1970 wurde das Gebäude als Kleiderfabrik genutzt. Danach war es Standort der Weitzelbücherei, Treffpunkt für kulturelle Vereine, Verkehrsbüro der Stadt Schlüchtern und während der Bauzeit des Rathausneubaus wurde es auch als Einwohnermeldeamt genutzt. Von 1995 bis 2010 wurde das Gebäude als KULTURHAUS SYNAGOGE genutzt. Wie es künftig genutzt werden kann steht derzeit noch nicht fest.
1998 beging die Gemeinde in Schlüchtern einen Ehrentag zum hundertjährigen Jubiläum der Synagoge. Wenig später wurde von den überlebenden Schlüchterner Juden an der Eingangspforte eine Mezuzah angebracht: Ein silberne, reich verzierte Kapsel symbolisiert den Bund des Gläubigen mit Gott und den neuen Bund der Freundschaft unter Christen und Juden. Die zum Zeichen ihres einladenden Charakters schräg montierte Kapsel wird von Juden, verbunden mit einem Segensspruch, vor dem Eintritt in das jeweilige Gebäude berührt. In der Kapsel steckt eine kleine Pergamentrolle mit Psalmversen.
Text und Fotos stammen aus "Die Zeit ist der Strom, in dem ich fische" S 20 ff. Text: Dr. Monika Vogt; Fotos: Winfried Eberhardt, Freund, Christine Krienke Landesamt für Denkmalpflege. Wir danken für die Gestattung der Nutzung.